History of the Peloponnesian War

Thucydides

Thucydides. Geschichte des Peloponnesischen Kriegs. Braun, Theodor, translator. Leipzig: Insel-Verlag, 1917.

Da das ein weiter Weg war, hatten die Athener Zeit, unterdessen in aller Ruhe an einer geeigneten Stelle ihr Lager aufzuschlagen, von wo sie nach Belieben zum Angriff vorgehen und wo die syrakusischen Reiter ihnen weder im Gefecht noch vorher viel anhaben konnten, indem es auf der einen Seite von Mauern, Häusern, Bäumen und einem Sumpfe, auf der anderen von steilen Abhängen umgeben war. Sie fällten die Bäume in der Nähe und schafften sie an die See, um damit ein Pfahlwerk zum Schutz ihrer Schiffe herzustellen, errichteten[*]( II )

114
bei Daskon, wo der Feind ihnen noch am ersten hätte bei­ kommen können, in der Eile eine Schanze aus Holz und zu­ sammengelesenen Steinen und zerstörten die Brücke über den Anapos. Während sie damit beschäftigt waren, kam niemand aus der Stadt heraus, um sie daran zu hindern. Die ersten, welche ihnen gegenüber erschienen, waren die Reiter der Syra­ kuser, bis sich dann später auch ihr ganzes Fußvolk dort an­ sammelte. Anfangs drangen sie bis dicht an das Lager der Athener vor; da diese aber nicht herauskamen, zogen sie sich hinter die Elorische Straße zurück und übernachteten dort unter freiem Himmel.

Am Tage daraus machten sich die Athener zur Schlacht bereit und ordneten dazu ihr Heer in folgender Weise. Den rechten Flügel bildeten die Argeier und die Mantineer, die Mitte die Athener, den anderen die übrigen Bundesgenossen. Die eine Hälfte ihres Heeres stand, acht Mann hoch, im ersten Treffen, die andere, ebenfalls acht Mann hoch, im Viereck bei den Zelten, mit dem Befehl, aufzupassen, wo etwa ein Heeresteil in Not käme, und dann zu dessen Unterstützung vorzugehen. Die Packknechte hatte man inmitten dieses Vier­ ecks untergebracht. Die Syrakuser stellten ihr aus dem ge­ samten syrakusischen Aufgebot und den anwesenden Bundes­ genossen bestehendes schweres Fußvolk sechzehn Mann hoch. Die Bundesgenossen, die zu ihnen gestoßen, waren in der Hauptsache Selinunter; dazu kamen Reiter aus Gela, im ganzen gegen zweihundert, und etwa zwanzig Reiter und gegen fünfzig Bogenschützen aus Kamarina. Ihre mindestens zwölfhundert Mann starke Reiterei stellten sie auf den rechten Flügel und neben diese die Speerschützen. Als die Athener sich anschickten, zuerst anzugreifen, schritt Nikias die Reihen ab, um den Mut seines Heeres und der einzelnen Völker­ schaften durch folgende Ansprache zu beleben.

„Was brauche ich euch lange Mut einzusprechen, Leute; kämpfen wir doch alle für dieselbe Sache! Der treffliche Zustand unserer Truppen, mein' ich, ist an sich mehr geeignet Mut zu machen als wohlgesetzte Reden vor einem schwachen

115
Heere. Wo wir hier, Argeier, Athener und die ersten Insel- völker, beisammen sind, wie sollte da nicht unter so viel tapferen Waffenbrüdern jeder einzelne mit voller Zuversicht aus den Sieg hoffen, zumal wir es mit bloßen Bürgerwehren zu tun haben und nicht mit alten Soldaten wie wir, und noch dazu mit diesen Sikelioten, die uns zwar verachten, aber uns nicht standhalten werden, weil wir uns besser auf den Krieg verstehen als sie. Bedenkt auch, daß wir fern von unserer Heimat sind und hier kein Freundesland finden werden, das wir nicht erst mit dem Schwerte gewinnen müßten. Und wenn die Feinde sich, wie ich wohl weiß, damit anfeuern, daß eS den Kampf fürs Vaterland gilt, so habe ich euch grade umgekehrt daran zu erinnern, daß ihr nicht im Vater­ lande kämpft, sondern in einem fremden Lande, wo ihr siegen müßt oder auf dem Rückzüge einen schweren Stand haben werdet; denn ihre zahlreiche Reiterei wird uns auf den Fersen sein. Macht also eurem alten Ruhm auch heute Ehre und greift eure Gegner nur herzhaft an, überzeugt, daß Not und Entbehrungen, womit ihr jetzt zu kämpfen habt, schlimmer sind als die Feinde."

Nach dieser seiner Ansprache führte Nikias das Heer sogleich zum Angriff vor. Die Syrakuser hatten in dem Augenblick noch nicht darauf gerechnet, daß es schon zur Schlacht kommen würde, und da ihnen die Stadt so nahe war, hatten sich manche dahin zurückbegeben. Die kamen zwar in aller Eile herbeigelaufen, aber doch zu spät, und schlossen sich nun aufs Geratewohl irgendeinem Truppenteile an. Denn an gutem Willen und Mut fehlte es ihnen wahr­ lich nicht, weder hier noch in den späteren Gefechten. Aber wenn sie auch an Tapferkeit, soweit ihre Kriegskunst reichte, ihren Gegnern nicht nachstanden, so wurde doch dadurch, daß eS ihnen hieran gebrach, ihre Schneidigkeit im Kampfe un­ willkürlich beeinträchtigt. Obwohl sie nicht geglaubt hatten, daß die Athener zuerst angreifen würden, und sie nun Hals über Kopf den Kampf mit ihnen aufnehmen müßten, so griffen sie doch zu den Waffen und rückten sogleich gegen sie vor.

116
Beiderseits wurde das Gefecht zuerst von den Steinwerfern, Schleuderern und Bogenschützen eröffnet und, wie es bei leichten Truppen in der Regel geht, bald der eine, bald der andere Teil zurückgeschlagen. Darauf aber brachten Wahr­ sager die üblichen Opfer, und Trompeter gaben dem schweren Fußvolke das Zeichen zum Angriff. Und nun setzte sich dieses in Bewegung, die Syrakuser zum Kampf fürs Vaterland, jeder einzelne davon durchdrungen, in diesem Augenblick für sein Leben und weiterhin für seine Freiheit zu fechten. Auf Seite der Gegner war es den Athenern darum zu tun, das fremde Land zu unterwerfen und ihr eigenes nicht durch den Verlust der Schlacht zu gefährden, den Argeiern und den unabhängigen Bundesgenossen aber, die Eroberungen, die man hier machen wollte, mit den Athenern zu teilen und als Sieger in ihr Vaterland heimzukehren. Die untertänigen Bundesgenossen endlich ließen es schon deshalb nicht an sich fehlen, weil sie im Fall einer Niederlage keine Aussicht hatten, für diesmal mit dem Leben davonzukommen, nebenbei aber auch in der Hoffnung, die Herrschaft der Athener werde sich für sie künftig weniger drückend gestalten, wenn sie ihnen geholfen hätten, neue Eroberungen zu machen.

Als es zum Handgemenge gekommen war, hielten beide Teile längere Zeit einander stand. Nun traf es sich, daß es unterdessen wiederholt donnerte und blitzte und dabei stark regnete, was diejenigen, die hier zum erstenmal ins Gefecht kamen und den Krieg noch nicht gewohnt waren, noch furcht­ samer machte, während die erfahrenen Krieger darin nur ein Ereignis sahen, wie es die Jahreszeit mit sich brachte, und sich weit mehr darüber wunderten, daß ihre Gegner noch immer standhielten. Nachdem jedoch die Argeier den linken Flügel der Syrakuser und dann auch die Athener die ihnen gegenüberstehenden Gegner geworfen hatten, wurde auch daS übrige Heer der Syrakuser durchbrochen und in die Flucht geschlagen. Verfolgen konnten jedoch die Athener nicht weit; denn die zahlreichen, noch unbesiegten Reiter der Syrakuser hinderten sie daran, die, wenn sie bemerkten, daß die Hopliten

117
irgendwo zu hastig vordrangen, auf sie einsprengten und sie zurücktrieben. Die Athener setzten deshalb die Verfolgung in Reih und Glied nur so weit fort, wie eS die Sicherheit gestattete, kehrten dann aber wieder um und errichteten ein Siegeszeichen. Die Syrakuser zogen sich nach der Elorischen Straße zusammen, stellten die Ordnung, so gut es ging, wieder her und schickten sogar einen Teil ihrer Mannschaft ab, um das Olympieion zu besetzen aus Furcht, die Athener möchten sich der dort vorhandenen Schätze bemächtigen. Die übrigen zogen wieder in die Stadt zurück.

Die Athener wandten sich indessen nicht nach dem Tempel, sondern sammelten ihre Toten, legten sie auf Scheiter­ haufen und blieben über Nacht auf dem Schlachtfelde. Am folgenden Tage gaben sie den Syrakusern, von denen und deren Bundesgenossen gegen zweihundertsechzig gefallen waren, ihre Toten unter Waffenstillstand heraus und sammelten die Gebeine ihrer eigenen Toten. Von ihnen und ihren Bundes­ genossen waren gegen fünfzig gefallen. Darauf führen sie mit der den Feinden abgenommenen Waffenbeute wieder ab nach Katana. Denn es war Winter, auch hielten sie es nicht für möglich, den Krieg hier weiter zu führen, bevor sie Reiterei aus Athen bekommen oder von den Bundesgenossen hier im Lande an sich gezogen hätten, damit ihnen der Feind an Reiterei nicht zu sehr überlegen wäre. Zugleich wollten sie sich erst hier im Lande Geld verschaffen und von Athen schicken lassen und einige Städte auf ihre Seite ziehen, die sich, wie sie hofften, dazu jetzt nach der Schlacht eher bereit finden lassen würden, auch sich noch weiter mit Lebensmitteln und sonstigem Bedarf versehen, um dann im Frühjahr Sy­ rakus anzugreifen.

Zu dem Ende gingen sie mit der Flotte nach Katana und Naxos zurück, um dort zu überwintern. Nachdem die Syrakuser ihre Toten bestattet, hielten sie eine Volksversamm­ lung. Hier trat Hermokrates, Hermons Sohn, vor ihnen auf, ein Mann, der überhaupt an Einsicht keinem nachstand, insbesondere im Kriege reiche Erfahrung gesammelt und sich

118
durch Tapferkeit hervorgetan hatte, und ermutigte sie, jener Niederlage wegen ihre Sache nicht verloren zu geben. Nicht, weil es ihnen an Mut gefehlt, seien sie geschlagen; nur ihre Unordnung sei ihnen verderblich geworden. Auch hätten sie ja ihre Sache über Erwarten gut gemacht, zumal sie gegen die ersten und bestgeschulten Truppen unter den Griechen, sozusagen als Laien gegen Fechtmeister, gekämpft. Aber auch die Menge der Feldherren - sie hatten nämlich fünfzehn - und der vielköpfige Oberbefehl sowie der Mangel an Ord­ nung und Mannszucht unter ihren Leuten sei ihnen sehr nachteilig gewesen. Wenn man aber nur wenige erfahrene Feldherren anstelle und in diesem Winter das schwere Fuß­ volk ordentlich ausbilde, auch, soweit es daran fehle, mit Waffen versähe, um es so stark wie möglich zu machen, und es überhaupt fleißig üben lasse, so hätten sie alle Aussicht, die Feinde zu besiegen, weil es ihnen schon jetzt an Tapfer­ keit nicht fehle, und sie dann auch in guter Ordnung ins Gefecht gehen würden. Denn damit würden sie beides ge­ winnen, sowohl die bessere Schulung für den Krieg, als auch den durch das Vertrauen darauf erhöhten Kampfesmut. Sie sollten also nur wenige und zwar mit unbeschränkter Gewalt zu Feldherren bestellen und ihnen zuschwören, daß niemand ihnen in ihren Oberbefehl hineinreden dürfe; dann würden Dinge, die geheim bleiben müßten, nicht so leicht auskommen und alle Anordnung gehörig und ohne Widerrede befolgt werden.

Hierauf beschlossen die Syrakuser ganz so, wie er ihnen geraten hatte, und wählten drei, ihn, Hermokrates selbst, Herakleides, Lysimachos' Sohn, und Sikanos, Exekestos' Sohn, zu Feldherren. Auch schickten sie Gesandte nach Korinth und Lakedämon, um beide für ein Bündnis mit Syrakus zu ge­ winnen und die Lakedämonier zu bewegen, den Krieg gegen die Athener ihretwegen offen und nachdrücklicher wieder auf­ zunehmen, um diese zum Abzüge aus Sizilien zu nötigen oder doch daran zu hindern, dem Heere in Sizilien weitere Ver­ stärkungen zu senden.

119

Die Athener aber gingen von Katana mit ihrem Heere sogleich nach Messene unter Segel, in der Hoffnung, eS würde ihnen durch Verrat in die Hände fallen. Die Sache war allerdings verabredet, allein es wurde nichts daraus. Alkibiades nämlich, der darum wußte, hatte es, als er nach seiner Abberufung bereits auf dem Rückwege war und einsah, daß in Athen seines Bleibens nicht sein würde, den Freunden der Syrakuser in Messene gesteckt. Diese ließen erst die Ver­ räter ermorden, rotteten sich dann mit ihren Gesinnungs­ genossen unter Waffen zusammen und setzten es durch, daß die Athener nicht eingelassen wurden. Die Athener blieben etwa vierzehn Tage vor Messene, da sie aber unter der Witterung litten und nichts zu leben hatten, auch keinerlei Fortschritte machten, zogen sie nach Naxos ab, wo sie sich in ihrem Lager verschanzten, um dort zu überwintern. Auch schickten sie eine Triere nach Athen, um sich zum Frühjahr Geld und Reiter auszubitten.

Die Syrakuser legten im Laufe des Winters bei der Stadt Befestigungen an. Der Temenites wurde auf der ganzen Seite nach Epipolai in die Ringmauer einbezogen, damit die Stadt im Fall einer Niederlage nicht so leicht in unmittelbarer Nähe durch eine Umwallung eingeschlossen werden könnte. Megara wurde als Außenwerk ausgebaut, ein anderes beim Olympieion. Auch an der See wurden überall, wo eine Landung möglich war, Palisaden errichtet. Als sie hörten, die Athener überwinterten in Naxos, zogen sie mit dem ganzen Heere nach Katana, verwüsteten einen Teil des dortigen Gebiets und steckten die Zelte und das Lager der Athener in Brand. Darauf kehrten sie wieder nach der Stadt zurück. Sowie sie die Nachricht erhielten, daß die Athener mit Rücksicht auf das unter Laches geschlossene Bünd­ nis eine Gesandtschaft nach Kamarina geschickt hätten, um es womöglich auf ihre Seite zu ziehen, schickten auch sie Gesandte dorthin, denn sie hatten die Kamariner in Verdacht, daß sie ihnen schon zu jener ersten Schlacht ihre Truppen nur ungern geschickt hätten und sich unter dem Eindruck des Sieges der

120
Athener in Zukunft überhaupt von ihnen lossagen und durch die alte Freundschaft bewegen lassen würden, zu diesen über­ zugehen. Nachdem Hermokrates aus Syrakus und EuphemoS von seiten der Athener mit einigen andern in Kamarina an­ gekommen waren, hielt HermokratoS in einer Versammlung der Kamariner, um sie von vornherein gegen die Athener ein­ zunehmen, folgende Rede:

„Nicht aus Furcht, ihr würdet euch durch die Macht schrecken lassen, mit der die Athener hier jetzt auftreten, sind wir zu euch gesandt, Kamariner, sondern weil wir besorgen, sie könnten euch durch glatte Worte einfangen, bevor ihr auch uns angehört. Denn sie sind nach Sizilien zwar unter einem Vorwande gekommen, der auch euch bekannt ist, aber mit Hintergedanken, über die wir alle unsere Ver­ mutungen haben. Nach meiner Meinung wollen sie nicht die Leontiner in ihre Stadt zurückführen, sondern uns von Haus und Hof vertreiben. Es ist doch sehr unwahrshceinlich, daß sie anderswo Städte zerstören, hier aber wieder aufbauen wollten, daß sie sich der Leontiner als Chalkidier und Stammes­ genossen annehmen sollten, während sie die Chalkidier in Euboia, deren Pflanzvolk diese sind, in Knechtschaft halten. ES ist immer dieselbe Geschichte, wie sie dort ihre Herrschaft aufgerichtet haben, so versuchen sie eS jetzt auch hier zu machen. Nachdem ihnen die Jonier und alle die Bundes­ genossen, die von ihnen abstammten, den Oberbefehl freiwillig zu dem Zweck übertragen hatten, sie an den Persern zu rächen, haben sie sie alle unterjocht. Den einen gaben sie schuld, den Kriegsdienst verweigert, den anderen, sich untereinander bekriegt zu haben, oder was sie sonst für Scheingründe den einzelnen gegenüber ins Feld führen konnten. Und so haben weder sie für die Freiheit der Griechen noch die Griechen für ihre eigene Freiheit gegen die Perser gekämpft, vielmehr sie, um die Griechen aus Untertanen des Königs zu ihren Untertanen zu machen, die Griechen aber, um einen neuen, zwar nicht so einfältigen, aber desto verschlagener« Herrn ein­ zutaushcen.

121

„Aber wir sind ja nicht hier, um die euch zur Genüge bekannten Gewaltstreiche, die man der Politik der Athener zum Vorwurf machen kann, mit euch durchzugehen, sondern im Gegenteil, um unS selbst anzuklagen. Haben wir doch vor Augen, wie sie die dortigen Griechen unterjocht haben, weil sie sich ihrer Haut nicht wehrten, und wie sie auch uns jetzt wieder mit solchen Spiegelfehctereien von Rückführung stammverwandter Leontiner und Bundeshilfe für Egesta hinters Licht führen wollen, und trotzdem können wir uns nicht ent­ schließen, ihnen mit vereinten Kräften mutig entgegenzutreten, um ihnen zu beweisen, daß sie es hier nicht mit Ioniern oder solchem Jnselvolk und Hellespontern zu tun haben, die sich heute die Herrschaft des Perserkönigs und morgen die eines neuen Herrn gefallen lassen, sondern mit freien Doriern aus dem freien Peloponnes, die sich hier in Sizilien eine Heimat gegründet haben. Oder warten wir, bis sie eine Stadt nach der anderen unterwerfen, während wir doch wissen, daß wir nur auf diese Weise zu besiegen sind, und mitansehen, wie sie es darauf anlegen, die einen durch Versprechungen uns abwendig zu machen, die anderen durch die Hoffnung auf ihren Beistand miteinander in Krieg verwickeln und jedem zu seinem Schaden möglichst um den Bart gehen? Glauben wir denn, wenn es erst dem fernen Landsmann an den Kragen gegangen, würde die Reihe nicht auch an uns kommen, und die, welche es vor unS betroffen, müßte man eben ihrem Schicksal überlassen?

„Und wer etwa meinen sollte, die Athener hätten eS doch nicht auf ihn, sondern auf den Syrakuser abgesehen, er würde sich hüten, für mein Vaterland seine Haut zu Markte zu tragen, der möge beherzigen, daß er in meinem Vaterlande so gut für sein Vaterland wie für meins kämpft, und zwar um so sichern, so lange er mich, und nicht nur mich allein, mit noch ungebrochener Kraft zur Seite hat, und daß der Athener nicht nur dem Syrakuser die Feindschaft eintränken, sondern auch ihm Gewalt antun will, wenn er für jetzt auch noch um seine Freundschaft wirbt und vorgibt, daß eS nur

122
auf mich abgesehen sei. Wenn unS aber jemand beneidet oder fürchtet, - ein mächtiger Staat muß eben beides in den Kauf nehmen, - und deshalb wünscht, damit Syrakus nicht zu übermütig würde, müsse es zwar Hedemütigt, aber seiner eigenen Sicherheit wegen doch nicht völlig vernichtet werden, so verlangt er, waS über menschliches Vermögen geht; denn man kann dem Schicksal nicht wie den Wünschen gebieten. Und wenn er sich dabei verrechnete, so würde er nachher im Jammer über sein eigenes Unglück doch vielleicht wünschen, daß er uns noch um unser Glück beneiden könnte. Das wird er aber nicht können, wenn er uns im Stich gelassen und die Gefahr, die zwar nicht dem Namen, aber der Sache nach uns beiden galt, nicht mit uns teilen wollte. Denn angeblich würde man zwar nur für uns und unsere Machtstellung, in der Tat aber fürs eigene Dasein kämpfen. Vor allen aber wäre es an euch, unseren Nachbarn, über die es nach uns hergehen wird, gewesen, Kamariner, uns von selbst Bundes­ hilfe zu leisten und es damit nicht so spärlich angehen zu lassen. Wie ihr, wenn die Athener zuerst nach Kamarina ge­ kommen wären, euch an uns gewandt und uns um Hilfe gebeten hättet, so hättet auch ihr euch jetzt bei uns sehen lassen und uns ermutigen müssen, standhaft auszuhalten. Aber damit hat es bis jetzt keine Eile gehabt, bei euch so wenig wie bei den anderen.

„Vielleicht werdet ihr euch aus Furchtsamkeit uns und den Feinden gegenüber auf den Rechtspunkt berufen und sagen, ihr hättet ein Bündnis mit den Athenern. Das aber habt ihr doch nicht gegen eure Freunde geschlossen, sondern für den Fall, daß man euch angreifen würde, und um den Athenern beizustehen, wenn sie von anderen angegriffen werden, nicht aber, wenn sie selbst, wie jetzt, über andere herfallen. Wollen doch die Rhegier, selbst Chalkidier, sich an der Rückführung der Leontiner, obwohl sie auch Chalkidier sind, nicht beteiligen. Und es wäre doch wunderbar, wenn die, weil sie die durch solchen Vorwand beschönigte wahre Absicht durchschaut, wider Erwarten so klug sein sollten, ihr aber euch durch einen

123
schlauen Vorwand verleiten ließt, euern natürlichen Feinden Vorschub zu leisten und euch zur Vernichtung eurer noch weit näheren Blutsfreunde mit deren ärgsten Feinden verbinden wolltet. Rechtlich seid ihr dazu nicht verpflichtet, vielmehr ist eS eure Pflicht, uns beizustehen und euch vor ihrer Macht nicht zu fürchten. Denn die kann uns, wenn wir alle zu­ sammenhalten, nicht gefährlich werden, wohl aber, wenn wir, worauf sie es so eifrig anlegen, uns in zwei feindliche Lager spalten. Haben sie doch jetzt, wo sie uns allein angriffen und ein glückliches Gefecht lieferten, nicht einmal ihren Zweck erreicht und schleunig wieder abziehen müssen.

„Mit vereinten Kräften also haben wir erst recht nichts von ihnen zu fürchten und können deshalb das Bündnis um so unbedenklicher eingehen, zumal wir Hilfe aus dem Pelo­ ponnes erhalten werden, wo man sich auf den Krieg in jeder Hinsicht besser versteht als sie. Glaubt nur nicht, daß jene ängstliche Neutralitätspolitik uns gegenüber billig genug und für euch geraten sei. Ja, vom Rechtsstandpunkte angesehen, mag sie es sein, tatsächlich aber ist sie es nicht. Denn wenn wir von den Athenern angegriffen und vernichtet werden, weil sie uns durch Übermacht besiegen, weil ihr uns nicht beisteht, habt ihr dann nicht grade durch euer Ausbleiben unseren Untergang herbeigeführt und sie nicht verhindert, ein Bubenstück zu verüben? Da wäre es denn doch weit rühm­ licher, euch eurer bedrängten Landsleute, noch dazu eurer Stammesgenossen, zum Heile ganz Siziliens anzunehmen und eure Freunde, die Athener, vor solchen Entgleisungen zu be­ wahren. Mit einem Worte, wir Syrakuser halten es nicht für nötig, euch und die übrigen weitläufig über Dinge zu be­ lehren, die ihr selbst ebensogut einseht, sondern kommen als Bittende, zugleich aber, um für den Fall, daß ihr uns kein Gehör gebt, hiermit in aller Form nachdrücklich festzustellen, daß wir jetzt, wo unsere alten Feinde, die Jonier, uns Dorier vernichten wollen, von euch Doriern im Stich gelassen werden. Wenn die Athener uns unterwerfen, so werden sie den Sieg zwar euch verdanken, selbst aber den Ruhm davon haben,

124
und grade den, der ihnen zum Siege verhelfen, sich als Sieges- preis ausersehen. Und wiederum, wenn wir die Oberhand behalten, so werdet ihr, die ihr unsere Gefahren verschuldet, eurer Strafe dafür nicht entgehen. Das überlegt euch also, und dann wählt zwischen der für den Augenblick gefahrlosen Knechtschaft und der Aussicht, mit uns zu siegen und weder in schimpfliche Abhängigkeit von ihnen zu geraten, noch euch, und das sicherlich nicht nur für kurze Zeit, unsere Feindschaft zuzuziehen."

So Hermokrates. Nach ihm nahm Euphemos, der Ge­ sandte der Athener, das Wort und sagte:

„Eigentlich sind wir nur hier, um das alte Bündnis zu erneuern. Die Angriffe des Syrakusers nötigen uns aber, auch über unsere Herrschaft ein Wort zu sagen, die wir denn doch mit gutem Recht besitzen. Den besten Beweis dafür hat er selbst schon angeführt, daß nämlich Jonier und Dorier von jeher Feinde gewesen seien. Damit verhält es sich so: Wir als Jonier mußten darauf bedacht sein, unsere Unab­ hängigkeit gegenüber den uns an Zahl überlegenen Doriern in unserer Nachbarschaft möglichst zu wahren, und nach den Perserkriegen, als wir im Besitz einer Flotte waren, gelang es uns auch, die Hegemonie der Lakedämonier abzuschütteln. Hatten sie uns doch so wenig zu befehlen, wie wir ihnen, so­ weit sie nicht eben ihre Übermacht damals dazu in den Stand setzte. Nachdem wir den Oberbefehl über die bisherigen Unter­ tanen des Königs übernommen hatten, haben wir ihn dann auch weiter beibehalten in der Meinung, so im Besitz einer Macht, die uns zum Widerstand befähigte, unsere Unabhängig­ keit den Peloponnesiern gegenüber am besten behaupten zu können und genau genommen auch die Jonier und Jnselvölker, von denen die Syrakuser sagen, wir hätten sie unerachtet der Verwandtschaft unterjocht, keineswegs mit Unrecht unter unsere Herrschaft gebracht zu haben. Denn sie waren mit den Per­ sern gegen uns, ihr Mutterland, zu Felde gezogen und hatten nicht den Mut, sich von ihnen loszusagen und wie wir, als wir unsere Stadt verließen, Hab und Gut preiszugeben,

125
sondern wollten lieber Knechte bleiben und auch uns dazu machen.

„Deshalb, und weil wir nicht nur die meisten Schiffe gestellt, sondern uns auch so freudig für die Sache der Griechen eingesetzt, während sie das zu unserem Schaden so bereitwillig für die Perser getan haben, kommt uns jetzt auch die Herr­ schaft zu. Außerdem mußten wir uns gegen die Peloponnesier stark machen. Auch wollen wir uns zur Rechtfertigung unserer Herrschaft nicht damit rühmen, daß wir allein die Barbaren besiegt und für die Freiheit der Jonier mehr Gefahren be­ standen haben als für unsere eigene und die Freiheit aller übrigen. Aber man kann es keinem verdenken, wenn er auf seine Weise für seine Sicherheit sorgt, auch jetzt sind wir zunächst unserer eigenen Sicherheit wegen zu euch gekommen, sehen aber, daß auch euch damit nicht minder gedient sein wird. Wir entnehmen das grade aus dem, was die Syra­ kuser uns anhängen wollen und euch jetzt hauptsächlich mit Furcht und Argwohn erfüllt, wissen aber auch, daß wer aus Furcht einem Argwohn Raum gibt, sich wohl für den Augen­ blick durch eine zündende Rede bestechen läßt, hinterher aber, wenn es zum Klappen kommt, dann doch tut, was ihm dienlich ist. Wie wir euch schon gesagt, haben wir unsere dortige Herrschaft aus Furcht aufgerichtet, und aus demselben Grunde sind wir jetzt hier, um mit unseren hiesigen Freunden Maß­ regeln zu unserer Sicherheit zu treffen, nicht um sie zu unter­ jochen, sondern grade um sie vor solchem Schicksal zu be­ wahren.

„Man wende nicht ein, wir hätten ja kein Interesse daran, uns eurer anzunehmen. Aber solange ihr euch behaupten könnt und stark genug seid, den Syrakusern das Widerspiel zu halten, so lange werden sie doch wahrscheinlich den Pelo­ ponnesiern keine Verstärkungen schicken können, wir also we­ niger zu befahren haben. Schon darum haben wir an euch daS größte Interesse. Und deshalb haben wir guten Grund, die Leontiner in ihre Stadt zurückzuführen, nicht als unsere Untertanen, wie es ihre Verwandten in Guboia sind, sondern

126
so mächtig wie möglich, damit sie aus ihrem Gebiet als unsere Bundesgenossen und Nachbarn der Syrakuser diesen zu schaffen machen. Denn drüben sind wir unseren Feinden auch allein gewachsen, und es ist wichtig für uns, daß die Chalkidiel dort, deren Unterjochung sich ja freilich mit unserer Absicht, sie hier zu befreien, nicht reimen soll, nicht selbst Truppen stellen, sondern nur Steuern zahlen, hier dagegen die Leon­ tiner sowohl wie alle unsere übrigen Freunde so unabhängig wie möglich sind.

„Einem Selbstherrscher oder einem Staate, der über andere herrscht, ist nichts ungereimt, was vorteilhaft, nichts verwandt, was ihm nicht sicher ist. Deshalb ist er genötigt, je nach Umständen bald Freund, bald Feind zu werden. Und hier gereicht es uns nicht zum Vorteil, wenn wir unsere Freunde schwächen, wohl aber, wenn unsere Feinde durch die Stärke unserer Freunde in Schach gehalten werden. Zum Mißtrauen habt ihr keinen Grund. Denn auch bei unseren dortigen Bundesgenossen halten wir es mit unserer Herrschaft so, wie es für uns bei jedem von ihnen am zuträglichsten ist. Die Chier und Methymner sind unabhängig und stellen Schiffe, die meisten halten wir kürzer und lassen sie Steuern zahlen, wieder andere sind völlig freie Bundesgenossen, obwohl sie auf Inseln wohnen und leicht zu unterwerfen wären, weil ihre Inseln in nächster Nähe des Peloponnes uns sehr gelegen sind. Natür­ lich also werden wir auch hier so verfahren, wie es uns zum Vorteil gereicht und, wie wir euch vorhin schon gesagt, aus Furcht vor den Syrakusern zweckmäßig erscheint. Denn sie wollen euch unter ihre Herrschaft bringen und dadurch, daß sie uns bei euch verdächtigen, auf ihre Seite ziehen, um sich mit Gewalt oder, wenn ihr, falls wir hier unverrichteter Sache wieder abziehen müssen, nur auf euch allein angewiesen seid, selbst zu Herren der ganzen Insel zu machen. Und das kann nicht ausbleiben, wenn ihr zu ihnen übergeht. Denn wir würden mit einer solchen vereinigten Macht schwerlich fertig werden, und euch würden sie, wenn wir nicht mehr da sind, unfehlbar überlegen sein. o

127