History of the Peloponnesian War

Thucydides

Thucydides. Geschichte des Peloponnesischen Kriegs. Braun, Theodor, translator. Leipzig: Insel-Verlag, 1917.

Die Menge wollte von Einführung der Oligarchie anfangs durchaus nichts hören, als ihr aber Peisandros klarmachte, daß ihr schlechterdings nichts anderes übrigbliebe, gab sie sich, und es wurde beschlossen, Peisandros solle sich mit noch zehn anderen zu Schiff zu Tissaphernes und Alkibiades begeben, um nach eigenem Ermessen das Geeignete mit ihnen zu verabreden. Gleichzeitig wurden Phrynichos, der von Peisandros verdächtigt worden war, und sein Mitfeldherr Skironides vom Volke ihres AmteS enthoben und statt ihrer Diomedon und Leon als Be­ fehlshaber der Flotte hinausgesandt. Peisandros aber hatte Phrynichos verdächtigt und beschuldigt, Jasos und Amorgos absichtlich im Stich gelassen zu haben, weil er ihn bei den Verhandlungen mit Alkibiades auszuschalten wünschte. Peisan­ dros ging auch in alle von früher in der Stadt vorhandenen politischen Vereine für Prozeß- und Älmterwahlangelegenheiten und bearbeitete sie, sich allesamt mit vereinten Kräften gegen die Demokratie ins Zeug zu legen. Nachdem er alles so weit vorbereitet hatte, daß es jeden Augenblick losgehen konnte, machte er sich zu Schiff zu Tissaphernes auf.

Leon und Diomedon waren inzwischen bei der athenischen Flotte angekommen und unternahmen noch in demselben Winter eine Fahrt nach Rhodos, wo sie die auf den Strand gezogenen Schiffe der Peloponnesier vorfanden und, nachdem sie gelandet, gegen rhodisches Kriegsvolk, das sich zur Wehr setzte, ein sieg­ reiches Gefecht lieferten. Darauf zogen sie sich nach Chalke zurück, von wo sie den Krieg leichter führen konnten als von Kos. Denn dort konnten sie besser beobachten, ob und wohin die peloponnesifche Flotte etwa unter Segel gehen würde. Nun aber kam der Lakedämonier Lenophantidas von Pedaritos aus Ehios nach Rhodos mit der Meldung, die Festungswerke

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der Athener wären jetzt fertig, und wenn man ihm nicht mit der ganzen Flotte zu Hilfe käme, wäre Chios verloren. Man be­ schloß also, dorthin zufahren. Unterdessen unternahm Pedaritos selbst mit dem ganzen Heere, seinen Söldnern sowohl wie den Chiern, einen Angriff auf die von den Athenern um ihre Schiffe erbauten Schutzwehren, eroberte sie auch zum Teil und be­ mächtigte sich einiger ans Land gezogener Schiffe. Als jedoch die Athener dann ihrerseits zum Angriff vorgingen, besiegten sie zuerst die Chier und dann auch Pedaritos mit seinem ganzen Heere, wobei er selbst und viele Chier ums Leben kamen und zahlreiche Rüstungen den Athenern in die Hände fielen.

Seitdem wurde Chios sowohl zu Lande wie zur See noch härter belagert als bisher, und in der Stadt herrschte große Hungersnot. Inzwischen waren Peisandros und die übrigen athenischen Gesandten bei Tissaphernes angekommen und ver­ handelten mit ihm über den Abschluß eines Vertrags. Alki­ biades aber, der seiner Sache bei Tissaphernes nicht ganz sicher war, weil dieser sich immer noch vor den Lakedämoniern fürchtete und, wie er ihm ja selbst geraten, beide sich einander schwächen lassen wollte, wußte das Blatt so zu wenden, daß Tissaphernes übermäßige Forderungen an die Athener stellte und deshalb kein Vertrag zustande kam. Wie mir scheint, wünschte auch Tissaphernes das ebensowenig, und zwar er aus Furcht vor den Lakedämoniern, während Alkibiades, als er merkte, daß Tissaphernes sich sowieso auf keinen Vertrag ein­ lassen würde, die Athener glauben machen wollte, er habe in der Tat bei ihm großen Einfluß und ihn auch bereits dahin- gebracht, sich auf die Seite der Athener zu schlagen, aber ihre Anerbietungen genügten ihm nicht. Denn er stellte in den Verhandlungen, in denen er in Gegenwart des Tissaphernes für diesen das Wort führte, so übertriebene Forderungen, daß es trotz der weitestgehenden Zugeständnisse der Athener doch immer an ihnen zu liegen schien, wenn nichts zustande kam. Er forderte nämlich, daß sie ihm ganz Ionien und dazu noch die davor liegenden Inseln und anderes mehr überließen. Und als die Athener dagegen keine Einwendungen machten, ver­

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langte er endlich aus Furcht, eS könne an den Tag kommen, wie gering sein Einfluß sei, bei der dritten Zusammenkunft sogar, daß dem Könige das Recht eingeräumt würde, eine Kriegsflotte zu halten und die Gewässer seines Gebiets überall mit einer beliebigen Anzahl von Schiffen zu befahren. Das ging den Athenern denn doch zu weit, und überzeugt, von Alkibiades hintergangen zu sein, reiften sie verdrießlich wieder ab und kehrten nach Samos zurück.

Gleich darauf, noch in demselben Winter, begab sich Tissa­ phernes nach Kaunos, um die Peloponnesier zur Rückkehr nach Milet zu veranlassen, und um nicht völlig mit ihnen zu brechen, beabsichtigte er, womöglich einen neuen Vertrag mit ihnen zu schließen und ihnen den Sold zu gewähren. Er fürchtete nämlich, wenn sie nicht Schiffe genug unterhalten könnten und gezwungen wären, eine Schlacht zu liefern, würden die Athener sie besiegen oder, falls ihnen die Mannschaft von den Schiffen entliefe, auch ohne ihn ihren Zweck erreichen. Außerdem befürchtete er noch besonders, sie möchten sich am Lande aufs Plündern legen, um sich Lebensmittel zu vershcaffen. Aus alle diesen Erwägungen und nach wie vor überzeugt, daß es darauf ankomme, die griechischen Mächte einander die Wage halten zu lassen, lud er die Peloponnesier zu sich ein, bewilligte ihnen den Sold und schloß mit ihnen folgenden dritten Vertrag:

„Im dreizehnten Jahre der Regierung des Königs Dareios, als Alexippidas in Lakedämon Ephor war, wurde in der Maian­ drosebene zwischen den Lakedämoniern und ihren Bundesgenossen einerseits und Tissaphernes, Hieramenes und den Söhnen des Pharnakes anderseits in Sachen des Königs und der Lake­ dämonier und ihrer Bundesgenossen folgender Vertrag geschlossen. Alle Länder, welche der König in Asien besitzt, bleiben dem Könige, und der König kann mit diesen seinen Besitzungen schalten, wie es ihm beliebt. Die Lakedämonier und ihre Bundesgenossen sollen gegen die Besitzungen des Königs keiner­ lei Feindseligkeiten verüben, auch von seiten deS Königs keinerlei Feindseligkeiten gegen die Besitzungen der Lakedämonier oder ihrer Bundesgenossen verübt werden. Würde jemand aus

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dem Gebiete der Lakedämonier oder eines ihrer Bundesgenossen einen feindlichen Angriff auf das Gebiet des Königs machen, so sollen die Lakedämonier und ihre Bundesgenossen das zu verhindern suchen, und wenn jemand aus dem Gebiete des Königs einen feindlichen Angriff auf die Lakedämonier oder ihre Bundesgenossen machen würde, so soll der König das zu verhindern suchen. Bis zur Ankunft der Flotte des Königs übernimmt Tissaphernes die vertragsmäßige Zahlung des Soldes für die gegenwärtig vorhandenen Schiffe. Nach der Ankunft der Flotte des Königs steht es den Lakedämoniern und ihren Bundesgenossen frei, ob sie ihre Schiffe in eigene Verpflegung nehmen wollen. Falls sie alsdann den Sold noch weiter von Tissaphernes zu beziehen wünschen, wird Tissaphernes ihn zahlen; dann aber haben die Lakedämonier und ihre Bundesgenossen ihm nach Beendigung des Krieges die erhaltene Summe zu erstatten. Nach Ankunft der Flotte des Königs soll der Krieg nach einem von Tissaphernes mit den Lakedämoniern und ihren Bundesgenossen zu vereinbarenden Plane von der Flotte der Lakedämonier und ihrer Bundesgenossen und der des Königs einheitlich geführt werden. Wenn sie aber Frieden schließen wollen, so soll dieser nur gemeinschaftlich geschlossen werden."

So lautete der Vertrag. Tissaphernes machte dann auch alsbald Anstalt, die phönizischen Schiffe der Verabredung ge­ mäß kommen zu lassen und die weiter von ihm übernommenen Verpflichtungen zu erfüllen, sorgte aber auch dafür, daß das allgemein bekannt würde.

Gegen Ende des Winters brachten die Böotier Oropos, wo sich eine athenische Besatzung befand, durch Verrat in ihre Gewalt. Leute aus Eretria und Oropos selbst, welche Euboia zum Abfall bringen wollten, hatten ihnen dabei die Hand ge­ boten. Denn die Stadt war bei ihrer Lage Eretria gegenüber, solange sie im Besitz der Athener war, eine beständige Gefahr für Eretria wie für ganz Euboia. Jetzt also, wo sie Oropos hatten, stellten sich die Eretrier in Rhodos ein und baten die Peloponnesier, nach Euboia zu kommen. Die aber waren mehr dafür, das so schwer bedrängte Chios zu entsetzen, und gingen

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mit der ganzen Flotte von Rhodos dahin unter Segel. Als sie am Triopion vorüberkamen, sichteten sie in See die Schiffe der Athener, welche von Chalke im Ansegeln waren. Zu einem Angriff kam es jedoch weder von dieser noch von jener Seite, und die einen gelangten nach Samos, die anderen nach Milet; die Peloponnesier aber sahen nunmehr ein, daß sie ohne eine Schlacht Chios nicht mehr würden entsetzen können. Damit endete dieser Winter und das zwanzigste Jahr des Krieges, den Thukydides beschrieben hat.

Im folgenden Sommer, gleich bei Eintritt des Frühlings, wurde der Spartiate Derkylidas mit einer Handvoll Leuten zu Lande nach dem Hellespont gesandt, um Abydos, eine Kolonie von Milet, zum Abfall zu bringen. Die Chier aber sahen sich, während Astyochos ihnen nicht zu helfen wußte, hart belagert wie sie waren, zu einer Seeschlacht gezwungen. Man hatte ihnen aus Milet, als Astyochos noch in Rhodos war, den Spartiaten Leon, der mit Antisthenes als Seesoldat heraus- gekommen war, nach Pedaritos' Tode als Befehlshaber ge­ schickt nebst zwölf, damals grade bei Milet liegenden Schiffen, von denen fünf aus Thurioi waren, vier aus Syrakus, eins aus Anaia, eins aus Milet und eins Leon selbst gehörte. Während sie mit ihrer ganzen Mannschaft einen Ausfall machten und eine starke Stellung im Gelände gewannen, gingen gleich­ zeitig ihre sechsunddreißig Schiffe gegen die zweiunddreißig der Athener vor und lieferten ihnen eine Schlacht. Dabei kam es zu einem heißen Kampfe, nach welchem sich die Chier und ihre Verbündeten, ohne besiegt zu sein, und zwar erst spät abends, in die Stadt zurückzogen.

Unmittelbar darauf, als Derkylidas zu Lande von Milet am Hellespont eingetroffen war, ging Abydos zu ihm und Pharnabazos über und zwei Tage nachher auch Lampsakos. Auf die Nachricht davon brach Strombichides unverzüglich mit vierundzwanzig Schiffen, darunter auch einer Anzahl Transport­ schiffen mit schwerem Fußvolk an Bord, von Chios dahin auf, besiegte die Einwohner von Lampsakos, die sich ihm entgegen­ stellten, und nahm ihre unbefestigte Stadt auch gleich mit

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Sturm. Die fahrende Habe ließ er plündern und die Sklaven als Beute wegführen, die Freien aber in der Stadt wohnen. Darauf zog er weiter nach Abydos. Da es sich nicht frei­ willig ergab und er es nicht mit Sturm nehmen konnte, fuhr er von Abydos hinüber nach Sestos, der Stadt am Chersones, wo sich die Perser seinerzeit behauptet hatten, und legte eine Besatzung hinein, um den ganzen Chersones in Schach zu halten.

Inzwischen aber hatten die Chier und die Peloponnesier in Milet zur See freiere Hand gewonnen, und Astyochos glaubte wieder etwas wagen zu können, als er die Nachricht von der Seeschlacht erhielt und hörte, daß Strombichides mit der Flotte abgezogen sei. Er fuhr mit zwei Schiffen hinüber nach Chios, um auch die dort befindlichen Schiffe erst abzu­ holen, und unternahm darauf mit der ganzen Flotte einen Zug nach Samos. Da jedoch die Athener, die sich untereinander nicht trauten, nicht zur Schlacht herauskamen, kehrte er wieder nach Milet zurück.

Um diese Zeit, und zwar schon etwas früher, war nämlich in Athen der Demokratie ein Ende gemacht worden. Nachdem Peisandros und die übrigen Gesandten von Tissaphernes nach Samoszurückgekommen waren, hatten sie sich nicht nur des Heeres noch fester versichert, sondern auch den vornehmen Samiern zu dem Versuch geraten, mit ihrer Hilfe ein oligar­ chisches Regiment in Samos aufzurichten, obgleich man sich dort solchen oligarchischen Bestrebungen früher mit bewaffneter Hand widersetzt hatte. Unter sich kamen die Athener in Samos bei weiterer Erwägung der Sache dann aber überein, Alki­ biades, da er nun mal nicht wolle und auch in eine oligarchische Regierung nicht passe, ganz aus dem Spiel zu lassen. Viel­ mehr würde es, nachdem sie schon so weit gegangen, nunmehr an ihnen sein, selbst das Ihrige zu tun, um die Sache durch­ zusetzen und zugleich den Krieg energisch fortzuführen und, da sie jetzt ihre eigene Haut zu Markte tragen müßten, Geld und alles, was sonst noch nötig sei, bereitwillig auch aus eigenen Mitteln beizusteuern.

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Nachdem sie das unter sich ausgemacht, schickten sie Pei­ sandros und die eine Hälfte der Gesandten sogleich nach Athen und trugen ihnen auf, auch in den abhängigen Städten, die sie unterwegs etwa anlaufen würden, oligarchische Regierungen einzusetzen; die andere Hälfte schickten sie nach allen Seiten an die übrigen abhängigen Orte. Diotrephes, der damals mit vor Chios war, den sie zum Oberbefehlshaber in Vorder­ thrakien ausersehen hatten, ließen sie zur Übernahme seines Amtes dahin abgehen. Der machte, als er nach Thasos kam, der Demokratie dort ein Ende. Aber schon etwa zwei Monate, nachdem er wieder abgefahren war, begannen die Thasier ihre Stadt zu befestigen, da ihnen an einer Adelsherrschaft im Bunde mit Athen nichts mehr gelegen war, weil sie jeden Tag auf ihre Befreiung durch die Lakedämonier rechneten. Denn die von den Athenern aus Samos vertriebenen Aristokraten befanden sich draußen im peloponnesischen Lager und setzten mit ihren Gesinnungsgenossen in der Stadt alle Hebel in Be­ wegung, daß man eine Flotte nach Thasos schicke, um es den Athenern zu entreißen. Und da kam es ihnen sehr gelegen, i daß die frühere Verfassung, ohne daß sie selbst etwas dabei gewagt, wiederhergestellt und die Volkspartei, die sich dem widersetzt haben würde, gestürzt war. Die Athener, welche das oligargische Regiment in Thasos eingeführt, hatten sich also dabei verrechnet, und wie ich glaube, ist es ihnen bei manchen anderen ihrer Untertanen nicht besser gegangen. Denn nach­ dem die Städte zur Besinnung gekommen waren und un­ beschadet ihre eigenen Wege gehen konnten, strebten sie nach voller Unabhängigkeit und wollten von einer wurmstichigen Autonomie von Athens Gnaden nichts mehr wissen.

Peisandros und seine Begleiter stellten, wie ihnen auf­ getragen war, in den Städten, die sie unterwegs berührten, die Volks Herrschaft ab, nahmen auch aus einigen Bewaffnete zu ihrem Schutz mit nach Athen. Bei ihrer Ankunft dort fanden sie, daß ihnen von ihren Freunden schon tüchtig vor­ gearbeitet war. Eine Anzahl junger Leute, die zur Partei ge­ hörten, hatten einen gewissen Androkles, einen der Hauptführer

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der Volkspartei, vornehmlich auf dessen Betreiben auch Alki­ biades verbannt worden war, heimlich ermordet und ihn haupt­ sächlich ans dem doppelten Grunde ums Leben gebracht, weit er einer der Führer der Volkspartei war und weil sie Alki­ biades, der ihrer Meinung nach zurückkehren und ihnen zu einem Bündnis mit Tissaphernes verhelfen würde, damit einen Gefallen zu tun glaubten. Ebenso hatten sie einige andere, ihnen unbequeme Persönlichkeiten heimlich aus dem Wege ge­ räumt. öffentlich aber kündigten sie einen Antrag an, wonach künftig niemand, wer nicht Kriegsdienste leistete, Sold aus der Staatskasse beziehen und das Stimmrecht in der Volksversamm­ lung nur fünftausend Bürgern, und zwar denjenigen zustehen sollte, welche persönlich und durch ihr Vermögen vorzugs­ weise imstande seien, die Lasten des Gemeinwesens auf sich zu nehmen.

Damit aber sollte die Sache nur in den Augen der Menge beschönigt werden; denn die Regierung in der Stadt sollte natürlich den Leuten in die Hände fallen, welche die bestehende Regierung stürzen wollten. Das Volk und der durchs Bohnen­ los gewählte Rat kamen freilich noch zusammen, allein es wurde nichts beschlossen, was den Verschworenen nicht in den Kram paßte. Die Sprecher waren ausschließlich Leute aus ihrer Mitte, die sich obendrein vorher darüber verständigt hatten, was sie sagen wollten, und von den übrigen wagte niemand zu widersprechen, da jeder sah, wie zahlreich deren Anhänger waren, und sich fürchtete. Wenn aber wirklich einmal einer widersprochen hatte, so konnte er sicher sein, bei erster Gelegen­ heit über die Seite gebracht zu werden, ohne daß nach den Tätern geforscht oder gegen die Verdächtigen eingeschritten wäre. Das Volk aber rührte sich nicht und war so einge­ schüchtert, daß jeder seinem Schöpfer dankte, wenn man ihn nur zufrieden ließ, auch wenn er den Mund halten mußte. Da man die Zahl der Vershcworenen für weit größer hielt, als sie wirklich war, hatte eben alles den Mut verloren. Genau fest­ zustellen aber war sie nicht wegen der Größe der Stadt und weil man einander nicht genügend kannte. Aus diesem Grunde

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konnte man auch anderen seine Not nicht klagen und sie um Beistand gegen Nachstellungen ansprechen; denn entweder wäre man damit an einen Unbekannten geraten oder an einen Be­ kannten, dem man nicht trauen durfte. Denn wenn zwei Demo­ kraten einander begegneten, traute einer dem anderen nicht, weil er nicht sicher war, ob der nicht auch mit dazu gehörte. Denn unter ihnen gab es manche, von denen niemand geglaubt hätte, daß sie es mit den Oligarchen halten würden. Und diese hauptsächlich waren es, welche den Argwohn der Menge erregten und dadurch, daß sie das Volk mit Mißtrauen er­ füllten, am meisten dazu beitrugen, der Sache der Oligarchen Vorschub zu leisten.

So standen die Dinge, als Peisandros und seine Be­ gleiter ankamen und sich auch gleich an die Spitze der Be­ wegung stellten. Sie beriefen zunächst eine Volksversammlung und schlugen vor, zehn Männer zu wählen und ihnen Voll­ macht zu erteilen, den Entwurf eines verbesserten Verfassungs­ gesetzes auszuarbeiten und ihn alsdann an einem im voraus bestimmten Tage an die Volksversammlung zu bringen. Darauf, als der Tag gekommen war, ließen sie die Versammlung draußen in Kolonos, einem etwa zehn Stadien von der Stadt entfernten Heiligtum des Poseidon, sozusagen hinter Schloß und Riegel abhalten, und das einzige, was die Gesetzgeber hier vorschlugen, war, eS solle den Athenern künftig freistehen, jeden beliebigen Antrag zu stellen, und bei schwerer Strafe verboten sein, einen solchen Antragsteller wegen Verfassungs­ verletzung ^raplie paranomonj anzuklagen oder ihm ander­ weit Ungelegenheiten zu bereiten. Schon hier wurde denn auch gradezu beantragt, die Amter und Behörden nicht mehr in bisheriger Weise zu besetzen und die Besoldungen aus der Staatskasse abzuschaffen, auch zunächst fünf Männer zu wählen, welche ihrerseits wieder hundert und diese hundert alsdann je drei weitere hinzuwählen sollten. Diese Vierhundert sollten sich dann aufs Rathaus begeben und unumschränkt nach eigenem Gutbefinden in der Stadt regieren, auch, sooft es ihnen an der Zeit scheine, die Fünftausend zusammenkommen lassen.

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Peisandros war es, der den Antrag stellte und auch sonst unermüdlich offen darauf ausging, die Demokratie zu stürzen. Wer aber die ganze Sache eingefädelt und schon seit langer Zeit bei sich erwogen hatte, wie man damit zum Ziel kommen könne, war Antiphon, ein Mann, der unter seinen Zeitgenossen in Athen an persönlicher Tüchtigkeit keinem nachstand, ein ebenso scharfer Denker wie gewandter Redner. In der Volks­ versammlung freilich und vor Gericht trat er nur ungern auf, und die Leute hielten ihn für einen Schlaukopf, dem nicht zu trauen. Denen aber, die vor Gericht oder in der Volks­ versammlung eine Sache auszufechten hatten und ihn unter vier Augen um Rat fragten, konnte er wie kein anderer in der Regel nützliche Winke geben. Auch später, als das Blatt sich gewandt und das Volk die Herrschaft der Vierhundert gestürzt hatte und er als einer, der sie mit aufgerichtet, wegen Hoch­ verrats angeklagt wurde, war unter allen den noch zu meiner Zeit in dieser Sache gehaltenen Verteidigungsreden seine ent­ schieden die beste. Besonders eifrig legte sich auch Phrynichos für die Oligarchie ins Zeug aus Furcht vor Alkibiades, weit er wußte, daß ihm bekannt geworden war, was er in Samos mit Astyochos verhandelt hatte, und er es für unwahrscheinlich hielt, daß eine oligarchische Regierung ihn zurückrufen würde; auch zeigte sich, daß man sich auf ihn, nachdem er einmal bei­ getreten war, in der Gefahr am sichersten verlassen konnte. Einer der ersten, welche die Demokratie zu stürzen suchten, war auch Theramenes, Hagnons Sohn, auch er ein Mann, dem es weder an Verstand noch an Rednergabe fehlte. Und eben weil so viel gescheite Männer sich daran beteiligten, wird es begreiflich, daß das Unternehmen, so schwierig es war, dennoch gelingen konnte. Denn es war keine Kleinigkeit, das athenische Volk nahezu grade hundert Jahre nach der Ver­ treibung der Tyrannen dahinzubringen, seiner Freiheit zu ent­ sagen, während es seitdem nicht nur selbst frei, sondern mehr als die Hälfte dieser Zeit über andere zu herrshcen gewohnt gewesen war.

Nachdem die Versammlung die Anträge ohne Widerspruch

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angenommen und sich aufgelöst hatte, führte man die Vier­ hundert auch schon bald nachher auf dem Rathause ein, und zwar in folgender Weise. Die Athener waren damals wegen der Feinde in Dekeleia, teils auf der Mauer, teils auf den Sammelplätzen immer alle unter Waffen. An dem Tage ließ man nun die, welche nicht mit im Geheimnis waren, wie ge­ wöhnlich bei der Ablösung nach Hause gehen, den Eingeweihten aber im stillen befehlen, sich nicht wie sonst auf die Sammel­ plätze zu begeben, sondern sich anderswo bereitzuhalten, um einen etwaigen Versuch, das Vorhaben zu vereiteln, mit be­ waffneter Hand zu verhindern. Unter denen, an welche dieser Befehl erteilt war, befanden sich auch dreihundert Mann aus Andros, Tenos und Karysos, sowie eine Anzahl der von den Athenern auf Agina angesetzten Kolonisten, die man zu dem Zweck bewaffnet hatte herüberkommen lassen. Nachdem diese über die Stadt verteilt worden waren, begaben sich die Vierhundert, den Dolch im Gewände, und die zweihundert jungen Leute, und zwar Griechen, die man mitgenommen, um nötigenfalls mit dem Knüttel dreinzuschlagen, aufs Rathaus zu den dort versammelten durchs Bohnenlos gewählten Rats­ herren und erklärten ihnen, ihr Sold würde ihnen gezahlt werden, und dann könnten sie nach Hause gehen. Den Sold für ihre ganze noch übrige Amtszeit hatten sie gleich mitgebracht und ließen ihn ihnen beim Hinausgehen auszahlen.

Als der Rat auf diese Weise ohne Widerspruch das Feld geräumt hatte, auch die übrige Bürgerschaft sich nicht rührte, sondern alles über sich ergehen ließ, losten die Vierhundert nunmehr, wo sie vom Rathause Besitz genommen, unter sich die Prytanen aus und verrichteten, um auch den Pflichten gegen die Götter zu genügen, beim Antritt ihres Amtes die üblichen Opfer und Gebete. Später hoben sie die unter der demokratischen Regierung getroffenen Anordnungen guten Teiles wieder auf, nur daß sie die Verbannten, Alkibiades' wegen, nicht zurückriefen, wie sie auch im übrigen ein rücksichtsloses und gewaltsames Regiment in der Stadt führten. Eine wenn auch nicht große Anzahl Männer, deren Beseitigung ihnen

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rätlich schien, ließen sie hinrichten, andere ins Gefängnis werfen, andere des Landes verweisen. Zu Agis, dem Könige der Lake­ dämonier, in Dekeleia schickten sie und ließen ihm sagen, sie seien bereit Frieden zu schließen und dürften voraussetzen, daß auch er sich darauf lieber mit ihnen einlassen würde als mit der bisherigen unzuverlässigen demokratischen Regierung.

Agis aber glaubte nicht, daß die Stadt ruhig bleiben und das Volk so bald auf seine alte Freiheit verzichten würde. Über­ zeugt, daß es dort beim Erscheinen eines starken feindlichen Heeres noch zu weiteren Auftritten kommen und wahrscheinlich gleich losgehen würde, gab er den Abgesandten der Vierhundert in seiner Antwort zu verstehen, daß von Friedensverhandlungen keine Rede sein könne. Auch ließ er aus dem Peloponnes noch zahlreiche Truppen kommen und rückte nicht lange nach­ her mit ihnen und der Besatzung von Dekeleia dicht unter die Mauern von Athen in der Hoffnung, entweder würde man sich dort im ersten Schrecken vielleicht eher zu Zugeständnissen an ihn verstehen, oder ihm doch bei der drinnen und draußen gewiß eintretenden Verwirrung unfehlbar gelingen, die nur schwach besetzten langen Mauern im ersten Angriff zu nehmen. Als er jedoch in die Nähe gekommen und von einer Bewegung in der Stadt nicht das geringste zu merken war, auch die gegen ihn ausgeschickte athenische Reiterei eine Anzahl seiner Hopliten, Leichtbewaffneten und Bogenschützen, die sich zu nah herangewagt, niedermachte und sich einiger Rüstuugen und Toten bemächtigte, sah er ein, daß er nichts ausrichtete, und zog mit dem Heere wieder ab. Er selbst blieb mit seinen Truppen an alter Stelle in Dekeleia, die erst später nach­ gekommenen aber ließ er, nachdem sie nur wenige Tage im Lande gewesen waren, wieder nach Hause gehen. Hierauf schickten die Vierhundert aber doch nochmal wieder Abgeordnete an Agis, bei dem sie jetzt auch schon mehr Entgegenkommen fanden, und auf seine Anheimgabe dann auch Gesandte zu Friedensverhandlungen nach Lakedämon, weil sie dem Kriege ein Ende zu machen wünschten.

Auch nach Samos schickten sie zehn Männer, um das

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Heer zu beruhigen und darüber aufzuklären, daß es bei der Einführung des oligarchischen Regiments durchaus nicht auf Unterdrückung der Stadt und der Bürger, sondern nur darauf abgesehen gewesen sei, Athen überhaupt vor dem Untergange zu retten, auch daß es nicht nur vierhundert, sondern fünf­ tausend Bürger seien, welche die Stadt regierten, wie sich ja schon bisher, auch wo es sich um die wichtigsten Beschlüsse über Feldzüge und auswärtige Angelegenheiten gehandelt, niemals auch nur fünftausend zu einer Versammlung eingefunden hätten. Mit diesen und anderen zweckdienlichen Aufträgen schickten sie die Zehn gleich ab, nachdem sie ans Ruder gekommen, weil sie besorgten, das Schiffsvolk würde sich das oligarchische Regi­ ment nicht gefallen lassen und der Herd einer Bewegung werden, die ihren Sturz herbeiführen könnte. Und so kam es auch.

Denn in Samos nahm es damals in der Tat mit der Oligarchie schon wieder ein Ende, und zwar grade zu der Zeit,. wo die Vierhundert zusammentraten. Jene Samier, welche sich früher gegen die Adelsherrschaft erhoben und zur Volks­ partei gehört, hatten sich nämlich nach Peisandros' Ankunft von diesem und den ihm anhängenden Athenern in Samos überreden lassen, die Farbe zu wechseln, und ihrer etwa Drei­ hundert miteinander verbunden in der Absicht, über ihre nach wie vor zur Volkspartei gehörenden Mitbürger herzufallen. Einen gewissen Hyperbolos aus Athen, einen Taugenichts, der nicht etwa, weil man seinen Einfluß oder sein Ansehen fürchtete, sondern weil er durch seine schlechten Streiche der Stadt Schande machte, durch das Scherbengericht verbannt worden war, brachten sie ums Leben, und zwar im Einverständnis mit Charminos, einem der Feldherren, und einigen anderen in Samos lebenden Athenern, die mit ihnen unter einer Decke steckten und ihnen auch sonst bei ihrem Treiben die Hand boten, mit deren Hilfe sie auch den Kampf gegen die Demo­ kraten aufzunehmen gedachten. Diese aber kamen dahinter und setzten die Feldherren Leon und Diomedon, denen, weil sie beim Volke in hohem Ansehen tsanden, das oligarchische Regiment [*]( II )

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nicht nach Sinne war, auch den Trierarchen Thrasybulos und Thrasylos, der als gemeiner Soldat im Heere diente, und noch einige andere, die schon immer für besonders eifrige Gegner der oligarchischen Partei galten, davon in Kenntnis, was man im Schilde führe, und baten sie, nicht zuzulassen, daß man sie unter die Füße trete und Samos, mit dessen Hilfe Athen seine Herrschaft bisher allein aufrechterhalten, in fremde Hände spiele. Die nahmen hierauf die Soldaten einzeln bei­ seite und stellten ihnen vor, daß sie das nicht leiden dürften, besonders auch der Mannschaft der Paralos, welche aus lauter freien Athenern bestand, die von jeher auch schon, ehe es dazu kam, gegen die Oligarchie gewesen waren. Leon und Diomedon aber ließen, wenn sie eine Fahrt nach auswärts unternahmen, immer eine Anzahl Schiffe zu ihrem Schutz zurück. Als dann die Dreihundert gegen die Demokraten wirklich zum Angriff schritten, kamen sie^lle, namentlich die Paralier, diesen zu Hilfe, und so ging die Volkspartei in Samos als Sieger aus dem Kampfe hervor. Einige dreißig von den Dreihundert wurden getötet, die drei Schuldigsten zur Strafe verbannt. Den übrigen aber trug man ihre Missetaten nicht nach und ließ ihnen auch unter der demokratischen Regierung ihr Bürgerrecht.