History of the Peloponnesian War

Thucydides

Thucydides. Geschichte des Peloponnesischen Kriegs. Braun, Theodor, translator. Leipzig: Insel-Verlag, 1917.

Mittlerweile fuhr die athenische Flotte um den Äorykos herum und traf beim Vorgebirge Arginon drei chiische Kriegs­ schiffe, auf welche sie, sobald sie ihrer ansichtig wurde, sogleich Jagd machte. Da aber erhob sich ein heftiger Sturm, und die chiischen Schiffe konnten sich nur mit genauer Not in den Hafen retten. Von den athenischen wurden die drei, welche am weitesten voraus gewesen waren, vom Sturm arg mit­ genommen und bei der Stadt Chios auf den Strand getrieben,

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wobei die Mannschaft teils ums Leben kam, teils in Gefangen­ schaft geriet; die übrigen kamen in den Hafen Phoinikus am Mimasgebirge in Sicherheit. Von dort fuhren sie später nach Lesbos hinüber, wo man Vorbereitungen zum Bau der Festungs­ werke traf.

Aus dem Peloponnes ging in demselben Winter der Lake­ dämonier Hippokrates mit zehn thurischen, von Dorieus, Dia­ goras' Sohn, selbdritt befehligten Schiffen, einem lakonischen und einem syrakustschen, nach Knidos unter Segel, das Tissa­ phernes bereits zum Abfall gebracht hatte. Als man in Milet davon Nachricht erhielt, befahl man dort, die eine Hälfte der Schiffe solle bei Knidos zum Schutz der Stadt liegen bleiben, die andere beim Triopion den von Ägypten kommenden Ge­ treideschiffen aufpassen. Das Triopion ist eine vorspringende Landspitze in Knidien mit einem Tempel des Apollon. Die Athener aber, denen das bekannt geworden war, kamen mit ihrer Flotte von Samos und nahmen die sechs Schiffe weg, . welche beim Triopion Wache standen; die Mannschaft konnte sich jedoch durch die Flucht retten. Darauf landeten sie bei Knidos und machten einen Angriff auf die Stadt, welche un­ befestigt war, und hätten sie auch beinah genommen. Am folgenden Tage erneuerten sie den Angriff, da man sich aber über Nacht dort besser vorgesehen hatte, auch die beim Trio­ pion von den Schiffen entkommene Mannschaft in die Stadt gelangt war, konnten sie so viel nicht mehr ausrichten. Des­ halb zogen sie ab, verheerten das platte Land und schifften sich wieder ein nach Samos.

Als Astyochos um dieselbe Zeit nach Milet kam, um den Oberbefehl über die Flotte zu übernehmen, hatten die Pelo­ ponnesier dort in ihrem Lager noch alles im Überfluß; denn der Sold wurde unverkürzt gezahlt, dazu die reiche Beute, welche die Leute in Jasos gemacht, und die Mileter nahmen die Lasten des Krieges gern und willig auf sich. Der erste Vertrag mit Tissaphernes, den Chalkideus geschlossen hatte, war jedoch den Peloponnesiern nicht nach Sinne, da sie ihrer Meinung nach dabei zu kurz gekommen waren, und so schlossen

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sie jetzt noch während der Anwesenheit des Therimenes einen neuen, der also lautete:

„Die Lakedämonier und ihre Bundesgenossen schließen mit König Dareios, den Söhnen des Königs und Tissaphernes einen Friedens- und Freundschaftsvertrag unter nachstehenden Bedingungen. Alle Länder und Städte, welche König Dareios besitzt oder sein Vater oder seine Vorfahren besessen haben, sollen weder von den Lakedämoniern noch von deren Bundes­ genossen mit Krieg überzogen oder sonstwie in feindlicher Ab­ sicht betreten, auch aus diesen Städten weder von den Lake­ dämoniern noch von deren Bundesgenossen Abgaben erhoben werden. Ebensowenig sollen die Lakedämonier oder deren Bundesgenossen von König Dareios oder Untertanen des Königs mit Krieg überzogen oder sonstwie als Feinde behandelt werden. In betreff etwaiger Ansprüche, welche der König gegen die Lakedämonier oder deren Bundesgenossen, oder die Lakedämonier oder deren Bundesgenossen gegen den König zu haben ver­ meinen, soll es bei dem bewenden, worüber sie sich gütlich mit­ einander verständigen werden. Der Krieg gegen die Athener und ihre Bundesgenossen soll gemeinschaftlich geführt, auch Frieden nur gemeinschaftlich von beiden geschlossen werden. Sämtliche Truppen, welche sich auf Ersuchen des Königs im Gebiete des Königs befinden, hat der König auf seine Kosten zu unterhalten. Wenn einer der Staaten, welche diesen Ver­ trag mit dem Könige geschlossen haben, einen Angriff auf das Gebiet des Königs machen würde, so sollen die übrigen ihn daran zu hindern suchen und dem Könige nach Kräften bei­ stehen. Und wenn jemand aus dem Gebiete des Königs oder einem der dem Könige untertänigen Länder einen Angriff auf das Gebiet der Lakedämonier oder ihrer Bundesgenossen machen würde, so soll der König ihn daran zu hindern suchen nnd ihnen nach Kräften beistehen."

Nach Abschuß dieses Vertrags hatte Therimenes den Be­ fehl über die Flotte an Astyochos abgegeben und sich auf einer Jacht eingeschifft und war seitdem vershcwunden. Inzwischen waren die Athener mit ihrem Heere von Lesbos nach Chios

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herübergekommen, wo sie nunmehr Land und See beherrschten und damals damit beschäftigt waren, Delphinion, einen auf der Landseite schon von Natur festen Platz mit zwei Häfen, nicht weit von der Stadt Chios, zu befestigen. Die Chier waren durch die früheren wiederholten Niederlagen entmutigt, dazu auch unter sich nicht eines Sinnes, sondern einer traute dem anderen nicht, seit Pedaritos Tydeus, den Sohn Ions, und seine Anhänger wegen ihrer athenischen Gesinnung hatte hinrichten lassen und man der Stadt ein oligarchisches Regi­ ment aufgezwungen hatte. Da sie unter diesen Umständen weder sich noch Pedaritos mit seinen Söldnern den Athenern für gewachsen hielten, so setzten sie sich nicht zur Wehr. In­ dessen wandten sie sich doch nach Milet nnd baten Astyochos, ihnen zu Hilfe zu kommen. Da der das ablehnte, sandte Pe­ daritos einen Bericht nach Lakedämon, worin er ihn wegen Verletzung der Amtspflicht bezichtigte. So standen die Sachen der Athener in Chios. Von Samos aber kreuzten sie mit ihren Schiffen eine Zeitlang gegen die feindliche Flotte in Milet, da diese indes nicht herauskam, gingen sie nach Samos zurück, ohne dort etwas Weiteres zu unternehmen.

Aus dem Peloponnes brachen in demselben Winter zur Zeit der Sonnenwende die siebenundzwanzig Schiffe auf, welche die Lakedämonier infolge der durch Kalligeitos aus Megara und Timagoras aus Kyzikos geführten Verhandlungen für Pharnabazos ausgerüstet hatten, und gingen unter Befehl des Spartiaten Antisthenes nach Ionien ab. Mit ihm sandten die Lakedämonier als Beirat für Astyochos elf Spartiaten hinaus, unter denen sich auch Lichas, Arkesilaos' Sohn, befand. Diese waren ermächtigt, nach ihrer Ankunft in Milet dort überhaupt mit nach dem Rechten zu sehen, auch die Schiffe, sei es nur diese oder auch mehr oder weniger, wenn sie es für gut fänden, zu Pharnabazos nach dem Hellespont zu schicken und Klearchos, Rhamphios' Sohn, der mit an Bord war, zu deren Befehlshaber zu ernennen. Zugleich war es in ihr Er­ messen gestellt, Astyochos des Oberbefehls über die Flotte zu entheben nnd ihn auf Antisthenes zu übertragen. Denn nach

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dem Berichte des Pedaritos war er ihnen doch verdächtig ge­ worden. Die Schiffe fuhren nun von Malea durch die offene See nach Melos, wo sie anlegten und zehn athenische Schiffe trafen, von denen sie drei leer wegnahmen und in Brand steckten. Aus Furcht, die übrigen von Melos entkommenen Schiffe könnten den Athenern in Samos die Nachricht bringen, daß sie im Ansegeln seien, wie das auch wirklich geschah, schlugen sie dann aber die Richtung nach Kreta ein und kamen auf diesem vorsichtshalber gemachten Umwege nach Kaunos in Asien. Von hier, wo sie sich sicher glaubten, schickten sie einen Boten an die Flotte bei Milet, um sich Geleit von dort zu erbitten.

Um dieselbe Zeit schickten die Chier und Pedaritos zu Astyochos und ließen ihn, trotzdem er immer noch nicht dran wollte, dringend auffordern, ihnen mit der ganzen Flotte zu Hilfe zu kommen und nicht länger mitanzusehen, daß der wichtigste Bundesstaat in Ionien von der See abgesperrt und zu Lande ausgeplündert und verwüstet würde. Denn die in Chios sehr zahlreich und außer in Lakedämon anderswo nirgends in solcher Menge vorhandenen Sklaven, deren Vergehen, eben weil ihrer so viele waren, mit besonderer Härte bestraft wurden, liefen gleich massenhaft zu den Athenern über, sobald es den Anschein gewann, daß diese sich mit Hilfe ihrer Festungswerke dort behaupten würden, und grade sie, die im Lande gut Be­ scheid wußten, hausten darin am ärgsten. Die Chier ließen ihm also sagen, er müßte ihnen zu Hilfe kommen, solange noch Hoffnung und Möglichkeit vorhanden, das abzuwenden, da die Festungswerke von Delphinion, an denen man arbeite, noch nicht fertig und die Athener erst im Begriff seien, auch ihr Lager und ihre Schiffe mit stärkeren Schutz-wehren zu um­ geben. Auch entschloß sich Astyochos, obgleich er seiner früheren Drohung wegen dazu keine Neigung hatte, mit Rücksicht auf . die Wünsche der Bundesgenossen ihnen zu Hilfe zu kommen.

Inzwischen kam jedoch von Kaunos die Nachricht, daß die siebenundzwanzig Schiffe und die Bevollmächtigten der Lakedämonier dort eingetroffen seien, und da es seiner Meinung

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nach nun vor allein darauf ankam, die stattliche Flotte Herein­ zugeleiten und die lakedämonischen Herren, die freilich ibm auf den Dienst passen sollten, sicher herüberzuschaffeu, so gab er Chios sogleich wieder auf und ging mit der Flotte nach Kaunos unter Segel. Auf der Fahrt landete er bei dem meropishcen Kos und ließ die Stadt, welche unbefestigt und durch ein Erd­ beben so schwer, wie es dort seit Meuschengedenken nicht vor­ gekommen, in Trümmer gelegt war, von Grund aus zerstören, da die Bewobner sich in die Berge geflüchtet hatten. Darauf durchstreifte er das platte Land und schleppte alles als Beute weg, was ibm in die Hände fiel, bis auf die Freien, die er laufen ließ. Von Kos kam er bei Nacht nach Knidos, wo er sich durch die Vorstellungen der Einwohner genötigt sah, die Mannschaft seiner Schiffe nicht an Land zu lassen, sondern sich ohne weiteres gleich gegen die zwanzig athenischen Schiffe zu wenden, mit denen Charminos, einer der Feldherren von Samos, den vom Peloponnes kommenden siebenundzwanzig Schiffen aufpaßte, denen Astyochos ja entgegenfuhr. In Samos war nämlich bekannt geworden, das; die Schiffe von Melos im Ansegeln waren, und Charminos paßte ihnen jetzt bei Sinne, Chalke, Rhodos und in den lykischen Gewässern auf, da er schon gehört hatte, daß sie augenblicklich in Kaunos wären.

Astyochos schug also ohne weiteres die Richtung nach Syme ein, um, bevor man ihm auf die Spur käme, die Schiffe womöglich irgendwo anf hoher See zu treffen. Seine Schiffe gerieten aber in der Nacht, wo es regnete und der Himmel durch Wolken verfinstert war, in die Irre und in Unordmmg, und bei Tagesanbruch, uoch ehe die Flotte sich wieder gesammelt hatte, wurde ihr linker Flügel von den Athenern gesichtet, als der andere Unterdessen noch bei der Insel herumirrte. Die Athener unter Charminos hielten auch, obgleich sie die zwanzig Schiffe nicht alle zur Stelle hatten, sofort auf sie zu in der Meinung, es sei die Flotte von Kaunos, der sie aufpaßten. Gleich im ersten Angriff versenkten sie drei Schiffe, machten mehrere andere kampfunfähig und behielten auch weiter in der Schlacht die Oberband, bis unvermutet auch alle übrigen feind­

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lichen Schiffe zum Vorschein kamen, und sie von allen Seiten umfaßt wurden. Da machten sie sich auf die Flucht und ver­ loren sechs Schiffe. Mit den übrigen gelangten sie glücklich nach der Insel Teutluffa und von da nach Halikarnaß. Hierauf gingen die Peloponnesier unter Segel nach Knidos, wo die siebenundzwanzig Schiffe aus Kaunos mit ihnen zusammen­ trafen. Darnach fuhren sie mit der ganzen Flotte nach Syme, errichteten dort ein Siegeszeichen und gingen dann wieder bei Knidos vor Anker.

Auf die Nachricht von der Schlacht fuhren die Athener von Samos mit allen Schiffen nach Sinne, ohne sich gegen die Flotte bei Knidos zu wenden oder von ihr angegriffen zu werden. In Syme erbeuteten sie das dort vorgefundene Schiffs­ gerät, machten dann noch einen Angriff auf Loryma am Fest­ lande und kehrten darauf nach Samos zurück. Die Schiffe der Peloponnesier, die nunmehr alle bei Knidos vereinigt waren, wurden, soweit nötig, dort wieder instand gesetzt. Die elf Lakedämonier aber besprachen sich mit Tissaphernes, der sich dort ebenfalls eingefunden hatte, sowohl über die bisherige Kriegführung und die dabei ihrer Ansicht nach gemachten Fehler, als auch darüber, wie man den Krieg im beiderseitigen Inter­ esse von nun an werde führen müssen. Namentlich Lichas unterzog das bisherige Verfahren einer scharfen Kritik und erklärte, daß die beiden Verträge, sowohl der des Chalkideus als der des Therimenes, sehr ungeschickt gefaßt seien. Es sei doch unerhört, wenn der König die Herrschaft über alle Länder beanspruchen dürfe, die er selbst oder seine Vorfahren früher mal besessen; denn dann würden ja alle Inseln wieder unter das persische Joch kommen, ja selbst Thessalien, die Lokrer und ganz Griechenland bis Böotien, die Lakedämonier also den Griechen nicht die Freiheit, sondern Perserherrschaft gebracht haben. Er verlangte deshalb, man solle einen anderen, besseren Vertrag schließen oder wenigstens den früheren als nicht vor­ handen betrachten; an dem Unterhalt für die Truppen sei ihm obendrein nichts gelegen. Tissaphernes aber nahm das sehr übel und zog verstimmt und unverrichteter Dinge wieder ab.

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Die Lakedämonier aber beschlossen, nach Rhodos zu fahren, wo einige angesehene Herren Verhandlungen mit ihnen ange­ knüpft hatten, da sie die durch die Menge ihrer Seeleute und ihr Landheer mächtige Insel auf ihre Seite zu ziehen hofften und zugleich darauf rechneten, daß sie mit Hilfe eines solchen Bündnisses imstande sein würden, auch ohne Tissaphernes um Geld anzugehen, ihre Flotte zu unterhalten. Sie gingen also gleich in diesem Winter von Knidos unter Segel und griffen zuerst Kameiros auf Rhodos mit vierundneunzig Schiffen an, worüber die Masse der dortigen Bevölkerung, die von den Verhandlungen nichts wußte, so in Schrecken geriet, daß sie die Flucht ergriff, zumal die Stadt unbefestigt war. Darauf beriefen sie die Einwohnerschaft und die der beiden Städte Lindos und Jelysos zusammen und überredeten die Rhodier, von Athen abzufallen. Rhodos ging dann auch zu den Pelo­ ponnesiern über. Als die Athener in Samos davon hörten, gingen sie augenblicklich mit ihrer Flotte unter Segel, um es womöglich noch abzuwenden, und ershcienen auf der Höhe vor der Insel, kamen aber grade zu spät und fuhren deshalb gleich wieder ab, erst nach Chalke und von da nach Samos. Später kamen sie mit ihren Schiffen noch öfter nach Rhodos und be­ unruhigten die Insel sowohl von Chalke uud Kos wie von Samos aus durch feindliche Angriffe. Die Peloponnesier aber erhoben von den Rhodiern eine Steuer von etwa zweiunddreißig Talenten, zogen ihre Schiffe ans Land und blieben dort achtzig Tage ruhig liegen.

Inzwischen aber, und zwar schon bevor sie nach Rhodos aufgebrochen waren, hatte sich das Blatt gewandt. Seit dem Tode des Chalkideus und der Schlacht bei Milet hegten die Peloponnesier Verdacht gegen Alkibiades, und Astyochos erhielt sogar einen Brief aus Lakedämon, worin man ihm anheim­ gab, ihn zu töten; denn Agis war sein persönlicher Feind, und man traute ihm dort überhaupt nicht. Infolgedessen begab er sich zuerst aus Furcht zu Tissaphernes und suchte ihn darauf möglichst gegen die Peloponnesier einzunehmen, und der handelte denn auch in allem nach seinem Rat. So war er es, der ihn

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bewogen hatte, den Sold zu kürzen und statt einer attischen Drachme nur drei Obolen, nnd auch diese nicht einmal regel­ mäßig zu geben. Dabei hatte er ihm empfohlen, den Pelo­ ponnesiern zu sagen, daß die Athener mit ihrer langen Erfahrung im Seewesen auch nur drei Obolen gäben, und zwar keineswegs aus Mangel an Geld, sondern damit ihre Seeleute nicht durch Überfluß auf schlechte Wege kämen und entweder für Dinge, die der Gesundheit nachteilig, zu viel Geld ausgäben und da­ durch an Körperkraft einbüßten, oder von den Schiffen ent­ liefen, wenn man nicht den Sold als Pfand gegen sie in der Hand behielte. Ebenso hatte er ihm geraten, die Befehlshaber der Schiffe und die Feldherren der Städte zu bestechen, sich damit einverstanden zu erklären, was sie dann ja auch alle taten bis auf die Syrakuser, deren Feldherr Hermokrates im Namen aller Buudesgenossen dagegen Widerspruch erhob. Auch wies er selbst die Städte ab, welche Geld haben wollten, und erklärte ihnen in Tiffaphernes' Namen, es sei eine Unverschämtheit von den Chiern, wenn sie, die Reichsten unter allen Griechen, in dem Augenblick, wo ihre Verbündeten ihnen ans der Not hülfen, von anderen gar noch verlangten, für ihre Befreiung nicht nur ihr Leben, sondern auch ihr Geld dranzusetzen, die übrigen Städte aber handelten sehr unrecht, wenn sie, die vor ihrem Abfall so viel für die Athener übergehabt hätten, jetzt nicht ebenso viel oder noch mehr zu ihrem eigenen Besten zahlen wollten. Zugleich deutete er ihnen an, Tissaphernes müßte für jetzt, wo er den Krieg auf eigene Kosten führe, natürlich spar­ sam sein, wenn er aber später mal Geld vom Könige bekomme, so werde er ihnen schon den vollen Sold zahlen und die Städte zufriedenstellen.

Tissaphernes aber empfahl er, es nicht zu schnell zum Frieden kommen zu lassen, auch nicht etwa, wie er vorharte, phönizische Schiffe heranzuziehen oder noch mehr Griechen in Sold zu nehmen, um dadurch Einer Macht zu Lande und zur See das Übergewicht zu vershcaffen, damit beide einander das Gleichgewicht hielten und der König in der Lage sei, die eine Macht gegen die ihm jeweilig unbequeme andere auszuspielen;

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denn wenn die Herrschaft zu Lande und zur See in Eine Hand gelange, so werde der König niemand haben, mit dessen Hilfe er deren Übermacht brechen könne, und sich demnächst genötigt sehen, mit großen Kosten und auf eigene Gefahr den Kampf mit ihr aufzunehmen. Weit vorteilhafter und ungefährlicher, ungleich wohlfeiler und zugleich sicherer für ihn sei es, die Griechen sich untereinander aufreiben zu lassen. Und da könne er nur dazu raten, sich in die Herrschaft mit den Athenern zu teilen, da diese es weniger auf die Beherrschung des Festlandes abgesehen hätten und sowohl ncul, ihren Versicherungen wie in der Tat im Kriege Zwecke verfolgten, welche den Interessen des Königs am meisten entsprächen. Denn sie würden mit ihm gemeinshcaftliche Sache machen, um sich die Inselwelt, ihm aber die in seinem Reiche wohnenden Griechen zu unterwerfen, während die Lakedämonier grade in der Absicht kämen, die Griechen zu befreien. Und es sei sehr unwahrshceinlich, daß die Lakedämonier, welche die Griechen jetzt von der Herrschaft ihrer Landsleute befreien wollten, davon absehen würden, sie auch von der Perserherrschaft zu befreien, solange es ihnen nicht gelungen, die Macht der Athener zu vernichten. Er riet ihm also, sich beide erst untereinander aufreiben und die Athener sich dabei möglichst erschöpfen zu lassen, um sich dann auch die Peloponnesier in Asien vom Halse zu schaffen. Im wesent­ lichen war das auch die Ansicht des Tissaphernes, soviel man wenigstens aus seinem Verhalten schließen konnte. Denn eben weil er den Rat des Alkibiades für gut hielt und ihm sein Vertrauen schenkte, zahlte er den Peloponnesiern nicht den vollen Sold und verhinderte sie, eine Seeschlacht zu liefern, indem er ihnen riet, die Ankunft der phönizischen Schiffe ab­ zuwarten, um den Kampf mit Übermacht aufnehmen zu können, wodurch er ihre Pläne durchkreuzte und ihre auch so schon sehr stattliche Flotte im rechten Augenblick lahm legte. Über­ haupt konnte man deutlich merken, daß es ihm mit der Teil­ nahme am Kriege kein Ernst mehr war.

Dazu aber hatte Alkibiades Tissaphernes und dem Könige, deren Gast er war, geraten, einmal weil er wirtlich glaubte.

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daß es so am besten für sie sei, gleichzeitig aber weil er auf seines Rückkehr in sein Vaterland bedacht war, indem er sich sagte, wenn er Athen nicht ganz zugrunde gehen ließe, würde man sich dort über kurz oder lang doch wohl bereitfinden lassen, ihn zurückzurufen. Seiner Meinung nach aberjwürde man dazu dort am ersten genötigt sein, wenn man erführe, daß er mit Tissaphernes auf gutem Fuß stände. Und so kam es auch. Denn als man im athenischen Heere in Samos von seinem Einfluß bei ihm hörte und Alkibiades selbst den an­ gesehnsten Persönlichkeiten des Heeres sagen ließ, wenn sie den Häuptern der oligarchischen Partei in Athen zu verstehen gäben, falls man der Pöbelherrschaft, durch die er vertrieben, ein Ende mache und die Oligarchie herstelle, sei er bereit, zurückzukehren, um ihre Politik zu unterstützen und ihnen auch die Freund­ schaft des Tissaphernes zu verschaffen, faßten die Trierarchen und die angesehensten Athener in Samos, teils deshalb, teils, und mehr noch, aus eigenem Antriebe den Plan, die Demokratie zu stürzen.

Die ganze Bewegung ging ursprünglich vom Heere aus und verbreitete sich von dort erst später in die Stadt. Zunächst begaben sich von Samos einige zu Alkibiades hinüber, um mündlich mit ihm zu verhandeln. Da dieser versprach, ihnen Tissaphernes und dann auch den König zum Freunde zu machen, wenn die Demokratie erst gestürzt wäre, da der König sich dann wahrscheinlich unbedenklicher darauf einlassen würde, so machten sie sich starke Hoffnung als die angesehensten, aber auch bisher an: schwersten geplagten Bürger, nunmehr ihrer­ seits zu Hause ans Ruder zu kommen und auch ihrer äußeren Feinde Herr zu werden. In Samos zogen sie nach der Rück­ kehr ihre Gesinnungsgenossen ins Geheimnis und teilten öffent­ lich den Leuten mit, daß der König ihr Freund sein und den Sold zahlen wolle, wenn der Demokratie ein Ende gemacht und Alkibiades zurückgerufen würde. Und das Kriegsvolk, dem die Sache im ersten Augenblick allerdings nicht nach Sinne war, beruhigte sich dann doch dabei in der willkommenen Aus­ sicht auf den Sold des Königs. Nachdem sie das unter die

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Leute gebracht, besprachen die Anhänger der Oligarchie die Vorschläge des Alkibiades nochmals unter sich und in weiterem Kreise ihrer Gesinnungsgenossen. Während den übrigen die Sache ausführbar und unbedenklich ershcien, wollte Phrynichos, der noch Feldherr war, davon durchaus nichts wissen. Seiner Meinung nach sei es Alkibiades, wie es in der Tat der Fall war, weder um Oligarchie noch um Demokratie, sondern ledig­ lich darum zu tun, eine Änderung der bestehenden Verfassung herbeizuführen und mit Hilfe seiner Freunde zurückgerufen zu werden. Sie hier aber müßten vor allem zu verhüten suchen, daß die bewaffnete Macht für Parteizwecke mißbraucht werde. Auch der König werde wenig Neigung haben, jetzt, wo die Peloponnesier auch schon zur See mit gleichen Kräften auf­ träten und eine Anzahl größerer Städte seines Reichs besetzt hätten, sich durch Freundesdienste gegen die ihm doch ver­ dächtigen Athener Ungelegenheiten zu bereiten, während er in der Lage sei, sich die Peloponnesier, die ihm niemals was zu­ leide getan, zu Freunden zu machen. Und wenn man den Bundesgenossen, weil sie ja selbst der Demokratie längst über­ drüssig seien, die Einführung demokratischer Verfassungen verheiße, so werde das nach seiner Überzeugung weder die Abgefallenen bewegen, sich den Athenern wieder anzuschließen, noch die ihnen Treugebliebenen fester an sie kitten; denn die Knechtschaft, gleichviel ob unter Oligarchie oder Demokratie, würde ihnen immer noch unwillkommener sein als die Freiheit, sei sie ihnen nun unter dieser oder jener Verfassung zuteil geworden. Von den sogenannten Edeln aber würden sie sich nichts Besseres versprechen wie von den Demokraten; denn das seien Geldschneider, die das Volk zum Bösen verführten, um sich selbst die Taschen zu füllen. Auch würde es ihrer Meinung nach, soviel an ihnen läge, nur noch mehr gewalttätige und willkürliche Einrichtungen geben, während grade das Volk ihre Zuflucht sei und sie in Schranken hielte. Und daß man in den Bundesstaaten auf Grund früherer Erfahrungen die Sache so ansähe, wisse er bestimmt. Noch alledem könne er sich mit den Vorschlägen des Alkibiades und dem, was man [*]( II )
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hier gegenwärtig vorhabe, seinerseits nicht einverstanden er­ klären.

Die in der Versammlung anwesenden Verschworenen stimmten jedoch, wie sie sich von vornherein vorgenommen hatten, den Vorschlägen zu und machten Anstalt, Peisandros und einige andere als Abgeordnete nach Athen zu schicken, um die Rückberusung des Alkibiades, den Sturz der Demokratie und den Abschluß eines Bündnisses der Athener mit Tissa­ phernes in die Wege zu leiten.

Überzeugt, daß es jetzt in Athen zu Verhandlungen über die Rückberusung des Alkibiades kommen und man ihr dort auch zustimmen werde, fürchtete Phrynichos, daß dieser, weil er gegen seine Vorschläge gewesen, sich nach seiner Rückkehr an ihm als seinem Widersacher rächen werde, und suchte dem auf folgende Weise zu begegnen. Er schickte an Astyochos, den Befehlshaber der lakedämonischen Flotte, der sich damals noch bei Milet befand, heimlich einen Brief, worin er ihm unter Angabe aller Einzelheiten mitteilte, daß Alkibiades jetzt gegen die Lakedämonier arbeite und ein Bündnis zwischen Tissaphernes und den Athenern zustande bringen wolle, indem er hinzufügte, es sei ihm nicht zu verdenken, daß er seinem Feinde ein Bein stelle, auch wenn es zum Nachteil seiner Vater­ stadt gereichen sollte. Astyochos aber dachte nicht daran, Alki­ biades, dessen er ja ohnehin nicht mehr habhaft werden konnte, dafür büßen zu lassen, sondern begab sich zu ihm und Tissa­ phernes nach Magnesia, teilte ihnen den Inhalt des Briefes mit, den er aus Samos erhalten, und verriet ihnen die ganze Sache. Wie es hieß, hatte er sich dazu herbeigelassen, Tissa­ phernes diese und andere Mitteilungen zu machen, weil er von ihm bestochen war, und deshalb auch der unvollständigen Zahlung des Soldes nicht ernstlich widersprochen. Alkibiades aber sandte sogleich ein Schreiben an die Behörde nach Samos, in dem er sie von dem Verrat des Phrynichos in Kenntnis setzte und dessen Hinrichtung verlangte. Phrynichos, der es mit der Angst kriegte und sich in der Tat infolge seiner Mitteilungen in größter Gefahr befand, schickte nun einen zweiten Brief an

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Astyochos, worin er ihn darüber zur Rede stellte, daß er das erste Mal nicht reinen Mund gehalten habe, und sich zugleich erbot, ihm zur Vernichtung des ganzen athenischen Heeres in Samos Gelegenheit zu geben. Dabei schrieb er ihm ausführ­ lich, wie er, da Samos nicht befestigt, die Sache angreifen müßte, und beteuerte, daß er sich jetzt, wo man ihm ans Leben wolle, kein Gewissen daraus zu machen brauche, lieber dies und jedes andere Mittel zu versuchen, als sich selbst von seinen Feinden den Kopf vor die Füße legen zu lassen. Astyochos aber brachte auch dies zur Kenntnis des Alkibiades.

Phrynichos ahnte jedoch, daß Astyochos ihn verraten und in kürzester Frist ein Brief darüber von Alkibiades eintreffen würde. Um dem zuvorzukommen, kündigte er selbst dem Heere an, daß die Feinde, da Samos unbefestigt sei und die Schiffe zum Teil draußen lägen, einen Angriff auf das Lager be­ absichtigten, wie er das aus bester Quelle wisse. Man müßte deshalb Samos so schnell wie möglich befestigen und auch sonst auf der Hut sein. Als Feldherr konnte er nämlich solche An­ ordnungen selbständig treffen. Auch wurde der Bau der Festungs­ werke sogleich in Angriff genommen und Samos, welches so­ wieso befestigt werden sollte, infolgedessen um so schneller damit versehen. Bald nachher traf dann auch der Brief des Alki­ biades ein, daß Phrynichos an dem Heere zum Verräter ge­ worden und der Feind schon im Begriff sei, es zu überfallen. Da man aber Alkibiades nicht traute, sondern annahm, daß er selbst in die Pläne der Feinde eingeweiht sei und Phrynichos nur auS persönlicher Feindschaft der Mitwissenschaft beschuldige, so schadete er ihm dadurch nicht, vielmehr ershceine dessen An­ gaben nur um so glaubwürdiger, weil der Inhalt seines Briefes sie bestätigte.

Seitdem setzte Alkibiades alle Hebel in Bewegung, um Tissaphernes auf die Seite der Athener zu ziehen. Der fürchtete allerdings die Peloponnesier, weit deren Flotte dort stärker war als die der Athener, gleichwohl wollte er ihm, wenn irgend möglich, gern zu Willen sein, zumal seit er sich in Knidos von der Unzufriedenheit der Peloponnesier mit dem Vertrage des

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Therimenes überzeugt hatte. Jener Wortwechsel hatte näm­ lich schon stattgefunden, als sie um diese Zeit in Rhodos waren. Als Lichas es bei der Gelegenheit für unerhört erklärte, daß dem Könige die Herrschaft über alle Städte zustehen solle, die er oder seine Vorfahren früher mal besessen, war ihm klar geworden, daß Alkibiades recht gehabt, als er ihm die Absicht der Lakedämonier, die sämtlichen Städte zu befreien, vorher schon angedeutet hatte. Alkibiades aber, dem es um seinen großen Zweck zu tun war, ließ es sich nicht verdrießen, Tissa­ phernes eifrig den Hof zu machen.

Peisandros und die mit ihm von den Athenern aus Samos entsandten Abgeordneten erstatteten nach ihrer Ankunft in Athen in der Volksversammlung einen kurzen Bericht über alles, waS vorgefallen, wobei sie besonders hervorhoben, wenn man Alkibiades zurückrufe und der Demokratie endlich ein Ende mache, so könne man ein Bündnis mit dem Könige haben und die Peloponnesier ausstechen. In betreff der Demokratie erhob sich jedoch von vielen Seiten Widerspruch, und die Feinde des Alkibiades schrieen um die Wette, es wäre doch heillos, wenn er seine Rückkehr mit Hilfe eines Staatsstreiches durchsetzen sollte; auch die Angehörigen der Priestergeschlechter des Eumol­ pos und Keryx bezeugten feierlich, daß er ja grade wegen des Mysterienfrevels in die Verbannung gegangen sei, und be­ schworen die Athener, ihn nicht zurückzurufet. Da Peisandros in der Versammlung vielfach auf so lebhaften Widerspruch stieß, nahm er die Widersacher einzeln beiseite und fragte sie, ob sie denn jetzt, wo die Peloponnesier so viel Schiffe auf See und mehr Bundesgenossen hätten als sie und von Tissaphernes mit Geld unterstützt würden, während hier die Kasten leer seien, überhaupt noch hoffen dürften, den Krieg durchzuhalten, wenn sich nicht jemand fände, der den König dazu brächte sich auf ihre Seite zu schlagen. Und wenn sie dann seine, Frage mit Nein beantworten mußten, so sagte er ihnen ins Gesicht: „Darauf aber können wir doch unter keinen Umständen rechnen, wenn wir nicht mit der tollen Wirtschaft hier auf­ räumen und ein oligarchisches Regiment einführen, damit der

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König Vertrauen zu uns faßt. Diesen Augenblick dürfen wir nicht an unsere Verfassung, sondern nur daran denken, wie wir glücklich durchkommen. Später können wir sie ja immer wieder ändern, wenn wir etwas daran auszusegen haben. Darum müssen wir Alkibiades zurückrufen, der jetzt unter allen der einzige ist, der das kann."