History of the Peloponnesian War

Thucydides

Thucydides. Geschichte des Peloponnesischen Kriegs. Braun, Theodor, translator. Leipzig: Insel-Verlag, 1917.

Die den Lesbiern zu Hilfe gesandten vierzig peloponne­ sischen Schiffe, welche auf der Flucht in offener See von den Athenern verfolgt und durch einen Sturm nach Kreta ver­ schlagen waren, gelangten von dort einzeln wieder nach dem Peloponnes, wo sie in Kyllene dreizehn leukadische und am­ prakische Trieren trafen, und wo auch Brasidas, Tellis' Sohn, als Beirat deS Alkidas sich eingefunden hatte. Die Lake­ dämonier beabsichtigten nämlich nach dem verfehlten Unter­ nehmen auf Lesbos, ihre Flotte zu vermehren und damit nach Kerkyra, wo damals zwei Parteien im Kampfe lagen, zu fahren, bevor die Athener, die augenblicklich bei Naupaktos nur zwölf Schiffe hatten, weitere Verstärkungen aus Athen dorthin schicken würden. Und damit waren Brasidas und Alkidas eben jetzt beschäftigt.

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In Kerkyra waren nämlich nach der Rückkehr ihrer in den Seeschlachten wegen Epidamnos in Gefangenschaft ge­ ratenen Landsleute Parteikämpfe ausgebrochen. Die Ge­ fangenen waren von den Korinthern freigelassen, angeblich gegen eine von ihrem dortigen Staatsgatsfreunde übernommene Bürgschaft von achthundert Talenten, in der Tat aber, weil sie sich anheischig gemacht hatten, Kerkyra auf ihre Seite zu ziehen. Die gingen auch bei den Bürgern von Haus zu Haus und suchten die Stadt von den Athenern abwendig zu machen. Inzwischen war sowohl ein athenisches wie ein korinthisches Schiff mit Gesandten an Bord in Kerkyra eingetroffen, und nachdem diese zu Wort gekommen, hatten die Kerkyräer be­ schlossen, an dem Bündnis mit den Athenern zwar festzuhalten, sich aber doch auch wie früher wieder freundlich zu den Pelo­ ponnesiern zu stellen. An der Spitze der demokratischen Partei stand damals ein gewisser Peithias, der zugleich sozusagen freiwilliger Staatsgastfreund der Athener war. Den klagten jene Herren an, er wolle Kerkyra unter athenische Herrschaft bringen. Er wurde jedoch freigesprochen, verklagte nun aber seinerseits die fünf Reichsten unter ihnen, weil sie im heiligen Haine des Zeus und des Alkinoos Weinpfähle gehauen hätten. Darauf aber stand ein Stater Strafe für jeden Pfahl. Sie wurden auch verurteilt, flüchteten sich aber in die Tempel und baten, ihnen bei der Höhe der Strafe wenigstens zu gestatten, sie in selbstgewählten Fristen abzuzahlet. Peithias aber, der damals grade selbst dem Rate angehörte, setzte durch, daß es bei der gesetzlichen Strafe sein Bewenden behielt. Nachdem ihr Gesuch als unzulässig abgeschlagen war und sie überdies erfuhren, daß Peithias beabsichtige, noch vor Ablauf seiner Amtszeit ein Schutz- und Trutzbündnis mit Athen beim Volke durchzusetzen, drangen sie und ihre Anhänger mit Dolchen be­ waffnet plötzlich in den Rat und ermordeten Peithias und gegen sechzig andere Ratsherren und Bürger mit ihm. Nur wenigen seiner Anhänger gelang es, auf das noch im Hafen liegende athenische Kriegsschiff zu entkommen.

Nach vollbrachter Tat riefen sie die Kerkyräer zusammen

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und sagten ihnen, es sei nur zu ihrem Besten geschehen und notwendig gewesen, um nicht unter die Knechtschaft der Athener zu geraten. Von nun an solle man beiden Teilen die Häfen verschließen; kämen sie nur mit einem Schiffe, so könne man sich das gefallen lassen, wenn aber mit mehreren, so seien sie als Feinde zu behandeln. Auch nötigten sie sie gleich, ihren Vorschlag anzunehmen. Nach Athen aber schickten sie sofort Gesandte, um den Vorfall in ihrem Sinne darzustellen, auch ihre dahin geflüchteten Mitbürger zu stempeln, nichts aus der Sache zu machen, damit ihnen die Athener nicht anf die Kappe kämen.

In Athen aber ließ man sowohl die Gesandten wie die Flüchtlinge, die sich mit ihnen eingelassen, als Aufrührer ver­ haften und nach Ägina bringen. Inzwischen schritt die zur Herrschaft gelangte Partei in Kerkyra, nachdem dort ein korinthisches Kriegsschiff mit einer lakedämonischen Gesandt­ schaft angekommen war, zu einem offenen Angriff auf das Volk und trieb es mit Waffengewalt auseinander. Mit Ein­ bruch der Nackt aber zog sich das Volk in die Burg und die oberen Stadtteile zurück, setzte sich hier in Masse fest und bemächtigte sich auch des hylläifchen Hafens. Die Gegner aber behaupteten den Markt, wo die meisten von ihnen ihre Häuser hatten, und den daran stoßenden Hafen dem Festlande gegenüber.

Am folgenden Tage kam es zu ein paar kleinen Schar­ mützeln, und beide Teile schickten ans dem Lande umher und suchten die Sklaven, denen sie die Freiheit versprachen, auf ihre Seite zu ziehen. Die Sklaven schlossen sich fast alle dem Volke an, die Gegenpartei erhielt jedoch vom Festlande einen Zuzug von achthundert Mann.

Erst am zweiten Tage begann der Kampf von neuem, und diesmal siegte das Volk, dem die Hrtlichkeit und seine Überzahl zustatten kam. Auch die Weiber beteiligten sich eifrig daran, warfen Ziegel von den Häusern und hielten im Toben des Kampfes heldenmütig aus. Besiegt, wie sie waren, fürchteten die Gegner bei Einbruch der Nacht, das Volk könne sich im

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ersten Ansturm der Schiffswerft bemächtigen und sie alle nieder­ machen. Um ihm den Weg zu versperren, steckten sie deshalb rings um den Markt herum die Bürgerhäuser und Miet­ wohnungen in Brand, wobei sie weder ihre eigenen noch fremde Häuser vershconten, so daß viel Kaufmannsgut mit draufging und wahrscheinlich die ganze Stadt ein Raub der Flammen geworden wäre, wenn der Wind das Feuer auf sie zugetrieben hätte. Nach Beendigung des Kampfes hielten sich beide Teile ruhig und blieben über Nacht auf ihrer Hut. Das korinthische Schiff machte sich nach dem Siege des Volkes in aller Stille auf und davon, und auch jene Freishcaren zogen größtenteils unbemerkt wieder nach dem Festlande ab.

Tags darauf kam Nikostratos, Diitrephos' Sohn, der athe- nische Feldherr, aus Naupaktos mit zwölf Schiffen und fünf­ hundert messenischen Hopliten in Kerkyra an. In dem Wunsche, die Sache friedlich beizulegen, empfahl er den Kerkyräern, sich zu vertragen, die zehn bereits flüchtigen Hauptschuldigen zu verurteilen, im übrigen aber den Streit zu begraben, um wieder miteinander im Frieden zu leben und ein Schutz- und Trutz­ bündnis mit den Athenern zu schließen. Als er das glücklich fertiggebracht hatte und wieder abfahren wollte, baten ihn die Häupter der Volkspartei, ihnen fünf seiner Schiffe zu lassen, um die Gegner besser in Schach halten zu können, wogegen sie ihm eine gleiche Zahl ihrer eigenen Schiffe bemannen und mitgeben wollten. Er erklärte sich damit auch einverstanden, sie aber nahmen die Mannschaft für die Schiffe nur auS der Gegenpartei. Die Leute fürchteten jedoch, sie sollten nach Athen gebracht werden, und flüchteten in den Tempel der Dioskuren. Nikostratos aber hieß sie von dort aufstehen und suchte sie zu beruhigen. Als ihm das nicht gelang, griff das Volk zu den Waffen, weil es hinter der mißtrauischen Weige­ rung, mitzufahren, böse Absichten witterte, drang in die Häuser der Gegner und würde wahrscheinlich auch einige von ihnen, die ihm in den Wurf kamen, umgebracht haben, wenn Niko­ stratos es nicht verhindert hätte. Als die übrigen das sahen, flüchteten sie sich in den Tempel der Hera, ihrer über vier­

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hundert an der Zahl. Das Volk aber, das neues Blutvergießen fürchtete, bewog sie durch gute Worte, herauszukommen, und brachte sie auf der Insel vor dem Heratempel unter, wo ihnen Lebensmittel verabreicht wurden.

In diesem Stadium des Parteikampfes, am vierten oder fünften Tage, nachdem die Leute auf die Insel gebracht worden waren, traf die peloponnesische Flotte, dreiundfuufzig Segel stark, von Kyllene ein, wo sie seit ihrer Rückkehr aus Jouien vor Anker gelegen hatte. Den Oberbefehl führte nach wie vor Alkidas, als dessen Beirat Brasidas mitfuhr. Sie ging zunächst im Hafen Sybota am Festlande vor Anker und setzte bei Tagesanbruch die Fahrt nach Kerkyra fort.

Hier aber, wo man sich jetzt nicht nur von der Gegen­ partei, sondern auch von einer feindlichen Flotte bedroht sah, geriet man in die größte Bestürzung, brachte auch gleich sechzig Schiffe zu Wasser und schickte sie, sobald die Mannschaft an Bord war, eins nach dem anderen einzeln gegen den Feind, obgleich die Athener dazu rieten, zunächst sie allein vorgehen zu lassen und selbst erst hinterher mit allen Schiffen zusammen nachzukommen. Wie nun die Schiffe so einzeln an den Feind kamen, gingen gleich zwei von ihnen über, auf anderen geriet die Mannschaft unter sich in Streit, und von Ordnung war dabei keine Rede. Als die Peloponnesier die Unordnung ge­ wahr wurden, wandten sie sich mit zwanzig Schiffen gegen die Kerkyräer, mit den übrigen gegen die zwölf athenischen Schiffe, von denen zwei die „Salaminia" und die „Paralos" waren.

Den Kerkyräern selbst mit ihren verfehlten und zer- splitterten Angriffen ging es übel genug. Die Athener aber, welche sich aus Furcht vor einer Umfassung durch die Überzahl der Schiffe nicht getrauten, den Angriff auf die ganze Flotte oder die Mitte der feindlichen Stellung zu richten, warfen sich auf einen Flügel und bohrten den Feinden ein Schiff in den Grund. Als diese hierauf einen Kreis bildeten, ruderten sie um sie herum und suchten sie in Verwirrung zu bringen. Als die peloponnesischen Schiffe den Kerkyräern gegenüber das be­ merkten und fürchteten, eS könne ein zweites Naupaktos geben,

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kamen sie den anderen zu Hilfe, und nun ging die ganze ver­ einigte Flotte gegen die Athener vor. Darauf ruderten die Athener rückwärts, und zwar ganz langsam, um die Feinde festzuhalten und den Kerkyräern auf der Flucht einen möglichst großen Vorsprung zu vershcaffen. Damit endete die Schlacht gegen Sonnenuntergang.

Die Kerkyräer aber hatten aus Furcht, die Feinde könnten nach ihrem Siege mit der Flotte vor die Stadt kommen, die Leute auf der Insel aufnehmen oder sonstwie Partei für sie ergreifen, diese von der Insel wieder in den Heratempel bringen und die Stadt gut bewachen lassen. Indessen fanden die Feinde trotz der siegreichen Schlacht nicht den Mut, an die Stadt zu kommen, sondern zogen mit dreizehn erbeuteten kerkyräischen Schiffen Heder nach dem Festlande ab, von wo sie gekommen waren. Ebensowenig unternahmen sie am folgenden Tage etwas gegen die Stadt, obgleich dort Furcht und Schrecken herrschte und Brasidas, wie es heißt, dazu ge­ raten hatte; aber nicht er, sondern Alkidas hatte das ent­ scheidende Wort. Doch kam es zu einer Landung beim Vor­ gebirge Leukimme, wo sie das Land verheerten.

Unterdessen versuchte das Volk in Kerkyra aus Furcht vor einem Überfall der Flotte sich mit den Flüchtlingen im Tempel und der Gegenpartei über Maßregeln zum Schutz der Stadt zu verständigen, und einige davon ließen sich auch bereitfindet, mit zu Schiff zu gehen. Bei alledem bemannte man nämlich noch dreißig Schiffe. Die Peloponnesier aber, welche bis Mittag das Land verheert hatten und darauf wieder abgefahren waren, erhielten bei Einbruch der Nacht durch Feuerzeichen die Meldung, daß sechzig athenische Schiffe von Leukas her im Ansegeln seien. Das waren die Schiffe, welche die Athener auf die Nachricht von dem Aufruhr in Kerkyra und Alkidas' Absicht, mit der Flotte dahin abzugehen, unter Eurymedon, Thukles' Sohn, ausgeschickt hatten.

Noch in der Nacht brachen die Peloponnesier in aller Eile auf und machten sich an der Küste entlang auf den Rück­ weg. Bei Leukas zogen sie, um bei der Fahrt um die Insel

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nicht gesehen zu werden, ihre Schiffe über die Nehrung und kamen auch glücklich nach Hause. Als die Kerkyräer hörten, daß die athenische Flotte im Ansegeln nnd die feindliche ab­ gezogen sei, nahmen sie die Messenier, die bis dahin draußen gelegen hatten, in die Stadt auf und ließen die von ihnen be­ mannten Schiffe nach dem hylläischen Hafen herumfahren, töteten auch auf der Fahrt alles, was ihnen von Gegnern in die Hände fiel. Die Leute, welche sich auf ihr Zureden zum Schiffsdienst verstanden hatten, setzten sie wieder an Land und brachten sie um. Dann zogen sie nach dem Heratempel und überredeten etwa fünfzig der darin befindlichen Flüchtlinge, sich einem gerichtlichen Verfahren zu unterwerfen, und ver­ urteilten sie alle zum Tode. Die meisten aber, die sich dem nicht unterworfen hatten und nun sahen, wie es den anderen erging, brachten einander im Heiligtum um, erhängten sich an den Bäumen oder nahmen, so gut eben jeder konnte, sich selbst das Leben. Sieben Tage, solange Eurymedon nach seiner Ankunft mit den sechzig Schiffen dort blieb, währte das Morden der Kerkyräer gegen alle, welche ihrer Meinung nach in der Stadt zu ihren Gegnern gehörten. War es dabei zunächst nur auf diejenigen abgesehen, die den Sturz der Demokratie ver­ schuldet, so wurden doch auch manche aus Privatfeindschaft oder Gläubiger von ihren Schuldnern umgebracht. Ein grausiger Zug des Todes! Was immer bei solchen Gelegenheiten Ent­ setzliches vorzukommen pflegt, wurde hier womöglich noch über­ boten. Väter töteten ihre Söhne; die Menschen wurden von den Altären gerissen und an den Stufen niedergemacht. Einige mauerte man im Tempel des Dionysos ein und ließ sie darin verschmachten.

Zu solch wilder Wut artete der Parteikamps aus, und das machte damals um so tieferen Eindruck, weil es hier eigentlich zum erstenmal vorkam. Später ging es dann freilich in ganz Griechenland sozusagen drunter und drüber, da es überall Parteikämpfe gab, in denen die Führer der Volkspartei die Athener, die Oligarchen aber die Lakedämonier zu Hilfe riefen. Im Frieden hätte man dazu wahrscheinlich weder Veranlassung

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noch Neigung gehabt, jetzt aber, wo sie miteinander im Kriege lagen, bot sich in solchen Kämpfen beiden Parteien die beste Gelegenheit, sich auf diese Weise zur Unterdrückung der Gegen­ partei und zur Befestigung der eigenen Macht fremde Hilfe zu verschaffen. Es waren schwere Leiden, welche damit über die Städte hereinbrachen, Leiden, wie sie freilich in solchen Parteikämpfen je nach Umständen mehr oder weniger zu allen Zeiten vorgekommen sind und vorkommen werden, solange die menschliche Natur dieselbe bleibt. In Frieden und guten Tagen, wo die bittere Not noch nicht an sie herantritt, sind die Staaten wie die Menschen so böse nicht; wenn aber der Krieg sie in die harte Schule nimmt und ihnen ungewohnte Ent­ behrungen auferlegt, entfesselt er damit auch die Leidenschaften der Menge. Dieser beständige Parteikampf in den Städten, und was man von den Dingen hörte, die dabei früher schon vorgekommen, trug nicht wenig dazu bei, die Sinnesart der Menschen völlig umzuwandeln und dem Gegner gegenüber jede Art von Hinterlist und maßloser Rache für erlaubt zu halten. Selbst die gewöhnliche Bedeutung der Wörter änderte man nach Belieben. Unverschämtheit hieß Freiheit und Brüderlich­ keit, vernünftige Überlegung bloße Feigheit, der besonnene Mann war ein Hasensuß, der Bedächtige eine Schlafmütze, tolles Zufahren männlich, ruhiges Nachdenken nur ein Vor- wand, sich zu drücken. Wer auf alles schimpfte, war gesinnungs­ tüchtig, und wer ihm widersprach, verdächtig. Wem ein hinter­ listiger Streich gegen einen anderen geglückt war, galt für klug, für noch klüger aber der andere, der sich nicht hatte hinters Licht führen lassen, und wer sich auf dergleichen über­ haupt nicht einließ, war ein Duckmäuser und eine Bange­ büchse. Wer einem ihm zugedachten Streich zuvorkam oder jemand dazu anstiftete, einem anderen einen solchen Streich zu spielen, der wurde gerühmt. Die Partei war ein festeres Band als selbst die Verwandtschaft, weil bei ihr auf unbedingte Bereitwilligkeit zu jedem Wagnis zu zählen war. Solchen Verbindungen war es nicht um Förderung erlaubter Zwecke, sondern um gesetzwidrige Erweiterung ihrer Macht und ihres
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Einflusses zu tun; man verband sich nicht, um die göttlichen Gesetze zu halten, sondern um sie zu brechen. Versöhnliche Anerbietungen der Gegner nahm man an, wenn sie die Ober­ hand hatten, aber nicht auf Treu und Glauben, sondern nur gegen handfeste Sicherheit. Sich zu rächen, galt für ehren- voller, als sich nichts gefallen zu lassen. Eide, die man einander bei einer Aussöhnung etwa geleistet hatte, betrachtete man nur als einstweiligen Notbehelf und hielt sich dadurch nicht länger für gebunden, bis man anderweit wieder zu Kräften gekommen war. Wer sich dann zufällig zuerst wieder MannS genug fühlte, rächte sich an dem Gegner weit lieber in einem un­ bewachten Augenblick, wo er sich sicher fühlte, als in offenem Kampfe; denn dabei konnte er nicht nur gewisser auf Erfolg rechnen, sondern auch auf den Ruhm, den Gegner durch Schlauheit überlistet zu haben. Die meisten Menschen wollen aber lieber, daß man sie für gescheite Bösewichter als für ehrliche Dummköpfe hält; denn hierüber schämen sie sich, darauf aber tun sie sich was zugute. Schuld an alledem war das Umsichgreifen der Mächtigen und die Leidenschaft, womit sie den Kampf um die Herrschaft führten. Denn während die Häupter beider Parteien in den Städten die schönen Namen Gleichberechtigung aller oder gemäßigte Aristokratie im Munde führten und für das Wohl der Stadt zu kämpfen behaupteten, stritten sie in der Tat nur miteinander um die Herrschaft, schreckten dabei vor keinem Mittel zurück und übten ohne Rück­ sicht auf Recht und Gemeinwohl in fanatischer Parteiwut maßlose Rache an den Gegnern, die sie unbedenklich durch un­ gerechte Abstimmung verurteilen ließen oder mit Gewalt zu Boden schlugen. Gottesfurcht war ein leerer Wahn und jede unter hochtönenden Phrasen verübte Untat ein neuer Ruhmes­ titel. Diejenigen Bürger aber, die es mit keiner Partei hielten, wurden von beiden mißhandelt, teils weil sie nicht mitmachten, teils weil man ihnen nicht gönnte, daß sie un­ geschoren blieben.

So waren in Griechenland infolge der Parteikämpfe Hinter­ list und Tücke jederart im Schwange, redliche Einfalt aber.

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welche mit Adel der Gesinnung so eng zusammenhängt, wurde verlacht und war verschwunden. Fast überall standen sich die Parteien feindlich und mißtrauisch einander gegenüber. Auch die feierlichsten Versicherungen und furchtbare Eide änderten daran nichts; denn über Treu und Glauben war man längst erhaben. Einer traute dem anderen nicht über den Weg, und jeder mußte sehen, wie er sich selbst vor Schaden hütete. Und grade die geistig unbedeutenderen Persönlichkeiten behielten dabei meist die Oberhand; denn im Bewußtsein ihrer Schwäche und aus Furcht, von ihren überlegenen Gegnern auf der Rednerbühne aus dem Felde geschlagen oder durch deren größere Gewandtheit in die Falle gelockt zu werden, griffen sie lieber gleich zu Gewaltmaßregeln. Die anderen aber, die in ihrem Hochmut meinten, ihnen schon auf den Dienst passen und mit ihrer Klugheit auch ohne Gewalt auskommen zu können, waren nicht genug auf ihrer Hut und kamen darüber um so eher zu Fall.

1 Mit diesem Unfug machte man großenteils in Kerkyra den ersten Versuch, mag man nun auf die Handlungen der Rache sehen, welche sie an ihren Regenten verübten, die in dieser Stellung mehr Stolz und Übermut als kluge Mäßigung bewiesen und den Anfang mit harten Ahndungen machten; oder auf die ungerechten Maßregeln, wozu andere die Begierde, sich aus ihrer bisherigen Dürftigkeit zu reißen, oder vielmehr die Sehnsucht nach ihres Nächsten Eigentum verleitete, oder auf die unbändige Hitze, wodurch sich diejenigen, welche nicht in der Absicht, sich zu bereichern, sondern wirklich das Recht zu handhaben, jemandem zu Leibe gingen, hinreißen ließen, höchst grausam und unerbittlich mit ihnen umzugehen. Bei dieser allgemeinen Verwirrung in der Stadt, wo die Gesetze von den natürlichen Neigungen der Menschen, die schon gewohnt sind, auch bei wirklicher Gültigkeit der Gesetze doch dagegen zu sündigen, gänzlich besiegt wurden, zeigte sich's frei, daß der [*]( 1 Kap. 84 gilt schon lange als »neckt. Ich verzichte auf einen neuen Versuch, eS in lesbares Deutsch zu übertragen, und gebe dafür im Text die Heil­ mannscke Überschnnq. — Lemgo nun. )

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Mensch, so wie er von Natur beschaffen ist, nicht Meister über seine Leidenschaften sei, daß er sich nicht durch Begriffe von der Gerechtigkeit in Schranken halten lasse, und daß er keinen über sich leiden könne. Gewiß, man würde nicht die heiligsten Pflichten dem Vergnügen an der Rache, noch das Bewußtsein, niemand unrecht getan zu haben, zeitlichen Vorteilen aufopfern, wo nicht der Neid eine so schädliche Gewalt über die Menschen hätte. So aber pflegen die Menschen die allgemeinen Gesetze dieser Art, auf welche sich alle Hoffnung ihrer eigenen Rettung, wenn es ihnen mißlich geht, gründet, sobald es darauf an­ kommt, sich an anderen zu rächen, gänzlich aufzuheben und sich also selbst auf den Fall, daß sie etwan im Notstande der­ selben benötigt sein sollten, ihren Schutz entziehen.^