History of the Peloponnesian War

Thucydides

Thucydides. Geschichte des Peloponnesischen Kriegs. Braun, Theodor, translator. Leipzig: Insel-Verlag, 1917.

„Die Redner, welche vor mir an dieser Stelle gesprochen, sind in der Regel des Lobes voll darüber gewesen, daß man bei unserer Totenfeier auch diese Rede eingeführt habe, sei eS doch eine schöne Sitte, unsere gefallenen Helden durch eine Rede am Grabe zu ehren. Nach meinem Gefühl hätte man eS lieber dabei lassen sollen, die Verdienste, die sich diese Männer durch ihre Taten erworben, auch nur durch eine Tat zu ehren, ich meine, durch solch ein ehrenvolles Begräbnis, wie ihr es heute wieder mit angesehen habt, anstatt es für die Beginn­ bigung der Verdienste so vieler Helden darauf ankommen zu lassen, ob einer eine gute oder eine schlechte Rede hält. Eine solche Rede zu halten, ist schwer, und eS wird dem Redner kaum gelingen, seine Zuhörer zu überzeugen, daß er jene Ver­

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dienste zutreffend gewürdigt habe. Denn wer selbst mit dabei gewesen und überhaupt ein guter Athener ist, wird die Rede im Vergleich zu dem, was er erwartet und von der Sache weiß, leicht zu matt finden, wer es aber nicht selbst miterlebt, wird manches für übertrieben halten, weil man keinem ein Lob für Leistungen gönnt, die man sich selbst nicht auch zu­ traut; denn soweit man es anderen noch gleichtun zu können meint, kann man das ihnen erteilte Lob allenfalls ertragen, darüber hinaus aber ist man gleich neidisch und will nicht daran glauben. Da man nun aber seinerzeit der Meinung gewesen ist, daß es so besser sei, so muß auch ich mich der eingeführten Ordnung fügen und werde versuchen, es jedem von euch möglichst nach Wunsch und Sinn zu machen.

„Ich beginne mit unseren Vorfahren; denn wir sind es ihnen schuldig, und es geziemt sich, bei einer solchen Feier ihrer dankbar zu gedenken. Als alteingesessene, mit dem väter­ lichen Boden von jeher festverwachsene Bevölkerung dieses Landes haben sie dessen Freiheit von Geschlecht zu Geschlecht bewahrt und auf uns vererbt. Haben schon unsere Altvorderen Anspruch aus unseren Dank, so vollends unsere Väter. Denn sie haben zu dem altererbten Besitz noch das weite Reich, das jetzt unser ist, hinzuerworben und uns hinterlassen. Wir selbst aber, das jetzige Geschlecht, haben es dann freilich noch weiter vermehrt und die Stadt mit allem, was sie für Krieg und Frieden bedarf, überreichlich ausgestattet. Von den Helden­ taten, denen wir unsere heutige Machtstellung verdanken, und von der Tapferkeit, die wir selbst und unsere Väter in den Kämpfen mit Barbaren oder Hellenen bei jeder Gelegenheit bewiesen haben, will ich nicht weiter reden; es sind das ja euch allen genügend bekannte Dinge. Wohl aber will ich euch, bevor ich mich zur Ehrung unserer Toten wende, ein Wort über den Geist unseres StaatSwesens und der Einrichtungen sagen, worauf die Größe Athens beruht. Denn ich glaube, daß ein Wort darüber bei dieser Gelegenheit nicht unangebracht ist, und daß allen Anwesenden hier, Einheimischen und Fremden, damit gedient sein wird.

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„Wir haben bei unserer Verfassung keine fremden Ein­ richtungen zum Muster genommen; im Gegenteil, wir haben anderen eher als Vorbild gedient, als ihnen was nachgemacht. Und weil das Regiment bei uns nicht in der Hand weniger, sondern der Gesamtheit liegt, nennt man unsere Verfassung demokratisch. Denn wie in den Angelegenheiten der einzelnen gleiches Recht für alle gilt, so gibt auch in Beziehung auf Geltung und An­ sehen in Staat und Gemeinde nur persönliche Tüchtigkeit einen Vorzug, nicht aber Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse, und selbst Armut hindert keinen, der was kann, aus seiner Unansehnlichkeit zu Amt und Würden zu gelangen. Wir sind im öffentlichen Leben nicht engherzig und im täglichen Verkehr untereinander keine Duckmäuser, nehmen es unserem Nächsten nicht übel, wenn er mal über die Stränge schlägt, und machen darüber kein sauertöpfisches Gesicht, um ihn da­ durch, wenn auch nicht umzubringen, doch moralisch zu ver­ nichten. Im persönlichen Verkehr sind wir nichts weniger als Splitterrichter, im öffentlichen Leben aber schämen wir uns jeder Ungesetzlichkeit und gehorchen der jeweiligen Obrigkeit und den Gesetzen, vorzüglich den zum Schutz der Bedrängten gegebenen, und den, wenn auch ungeschriebenen Gesetzen, deren Übertretung jedermann für Schande hält.

„Auch für Gelegenheit zur Erholung von Mühe und Arbeit ist bei uns reichlich gesorgt, durch Spiele und Feste, wie sie hier jahrein jahraus gehalten werden, aber auch durch unser schönes Familienleben, dessen tägliche Freuden die Sorgen vershceuchen. Bei der Größe unserer Stadt kommen die Er­ zeugnisse aller Länder hier zu Markte, die wir so gut als unser Eigentum ansehen können wie die Erzeugnisse unseres eigenen Landes.

„Auch in Beziehung auf das Kriegswesen befolgen wir insofern andere Grundsätze als unsere Gegner, als wir niemand den Aufenthalt hier in der Stadt verwehren. Es kommt nie vor, daß jemand ausgewiesen oder daran gehindert wird, sich hier umzutun und zu belehren, aus Furcht, die Feinde könnten uns Geheimnisse absehen und sich zunutze machen. Denn

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wir verlassen uns nicht sowohl auf Vorsichtsmaßregeln und Überrashcungen als vielmehr auf den im Kampfe bewährten persönlichen Mut. Während man bei ihnen die Knaben schon von klein auf durch Anstrengung und Abhärtung zur Tapferkeit erziehen zu müssen glaubt, gehen wir auch ohne solche harte Zucht nicht minder entschlossen in den Kampf und können es dreist mit ihnen aufnehmen. Das steht man schon daraus, daß die Lakedämonier bei Einfällen in unser Land nicht allein kommen, sondern gleich alle ihre Bundesgenossen aufbieten, während wir unseren Nachbarn allein ins Land fallen und ste, obwohl ste für Haus und Hof fechten, in der Regel ohne große Mühe besiegen. Mit unserer ganzen Macht auf einmal hat es ein Feind noch nie zu tun gehabt, weil wir gleichzeitig immer Mannschaft für die Flotte bedürfen und auch zu Lande unsere Truppen an allen Ecken und Enden verwenden müssen. Kommen aber die Herren mal mit einem unserer Heeresteile ins Gefecht und schlagen sie dabei ein paar Athener aus dem Felde, so wird daraus gleich ein Sieg über das ganze athe­ nische Heer; sind sie dagegen von uns besiegt, so sind sie immer nur unserer ganzen Macht unterlegen. Wenn wir aber auch ohne solchen Zwang getrost in den Kampf gehen und uns dabei nicht auf künstlich gezüchtete Tapferkeit, sondern auf angebo­ renen Mut verlassen, so kommt uns nur das zugute; denn auch ohne unsere Kräfte vorher auszugeben, stehen wir nicht minder unseren Mann als unsere Gegner, die sich bis dahin beständig abgequält haben. Und deshalb bewundert man Athen mit Recht, aber freilich noch aus anderen Gründen.

„Denn wir pflegen die Künste, aber nicht um eiteln Prunkes willen, und lieben die Wissenschaft, aber ohne uns dadurch verweichlichen zu lassen. Wir schätzen den Reichtum als ein Mittel, um nützlichen Gebrauch davon zu machen, nicht aber um damit zu protzen. Seiner Armut braucht sich niemand zu schämen, es sei denn, daß er sie durch Faulheit selbst verschuldet hat. Der Politiker kann sich bei uns auch seinen eigenen Angelegenheiten widmen und der Geschäfts­ mann, der sein Gewerbe treibt, dabei sehr wohl auf Politik

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verstehen. Nur hier hält man den, der sich nicht um Politik bekümmert, nicht für einen guten Bürger, sondern für einen Philister. Bei uns bildet sich jeder wenigstens ein Urteil über solche Fragen, wenn es auch zunächst den berufsmäßigen Poli­ tikern überlassen bleibt, über deren richtige Lösung nachzudenken. Wir glauben nicht, daß die Sachen darunter leiden, wenn man sich erst öffentlich darüber ausspricht; im Gegenteil, wir halten eS für verkehrt, eine Sache anzugreifen, ohne sich darüber vorher durch Rede und Gegenrede belehren zu lassen. Denn auch darin untershceiden wir uns von anderen, daß wir bei unseren Unternehmungen erst wägen und dann wagen, während sie dummdreist draufgehen und, wenn sie zur Besinnung kommen, den Mut verlieren. Der wahre Mut ist es denn doch, sich zu­ nächst klarzumachen, was man zu hoffen und zu fürchten hat, und dann doch nicht vor der Gefahr zurückzushcrecken. Auch über Wohltun deuten wir anders als die meisten; nicht durch Nehmen, sondern durch Geben suchen wir uns Freunde zu machen. Wer einem anderen eine Wohltat erweist, hält fester an der Freund­ schaft und sucht sich dessen Dankbarkeit durch fortgesetztes Wohl­ wollen zu erhalten; der durch eine Wohltat Verpflichtete da­ gegen läßt es schon eher darauf ankommen, weil er sich sagt, daß er sie nicht erwidert, um dem anderen eine Freude zu machen, sondern um eine Schuld abzutragen. Wir sind die einzigen, die nicht aus Berechnung und um eigenen Vorteils willen, sondern als freie Männer auch ohne Nebenabsichten vertrauensvoll und furchtlos anderen Wohltaten erweisen.

„Mit einem Worte, ich sage, unsere Stadt ist die hohe Schule für ganz Griechenland, und glaube, daß auch der ein­ zelne Athener sich mit seiner Gewandtheit und Sicherheit in allen Lebenslagen in der Regel leicht zurechtfinden wird. Und daß ich damit nicht nur bei dieser Gelegenheit den Mund etwas voll nehme, sondern daß dem in der Tat so ist, beweist die große Stellung unserer Stadt, die wir solchen Eigenschaften verdanken. Sie allein ist, bei Lichte besehen, größer als ihr Ruf, die einzige, von der besiegt zu werden auch der Feind sich nicht schämt, der zu gehorchen ihre Untertanen nicht unter

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der Würde halten. Nach einer so glänzenden und wahrlich zur Genüge bezeugten Entfaltung unserer Macht und Größe kann uns die Bewunderung der Mit- und Nachwelt nicht fehlen. Wir brauchen zur Verherrlichung unserer Taten keinen Homer noch sonst einen Sänger, der für den Augenblick ent­ zückt, dessen Fabelwelt dann aber vor der Wahrheit nicht Stich hält. Über Land und Meer, soweit eines Menschen Fuß reicht, sind wir die Heldenbahn geschritten und haben überall bei Freund und Feind ein unvergängliches Andenken hinterlassen. Für diese Stadt haben auch diese Tapferen als deren treue Söhne ihr Leben gelassen, und auch unter uns Überlebenden hier ist gewiß keiner, der nicht mit Freuden für sie in den Tod gehen würde.

„Darum bin ich auch auf die Verhältnisse unserer Stadt eingegangen. Ich wollte euch zeigen, daß für uns denn doch andere Dinge auf dem Spiel stehen als für Leute, bei denen es dergleichen wie hier bei uns nicht gibt, und dadurch zugleich das Verdienst der Männer, denen ich die Grabrede halte, um so Heller ins Licht setzen. Auch ist damit das Beste zu ihrem Ruhm bereits gesagt. Denn alles, was ich zum Ruhm der Stadt gesagt habe, verdankt sie eben der Tüchtigkeit dieser Männer und solcher Helden wie sie, und in ganz Griechenland wird man das nicht von allzuvielen, so wie von ihnen, ohne Übertreibung rühmen können. Ich meine, ein Tod wie ihrer beweist unter allen Umständen die Tüchtigkeit eines Mannes, mag er sie damit zum erstenmal bewähren oder vollends be­ siegeln. Selbst dem Taugenichts kommt es zugute, wenn er schließlich sein Leben auf dem Schlachtfelde fürs Vaterland einsetzt; denn durch solche Tapferkeit hat er seine Fehler be­ deckt und dem Gemeinwesen mehr genützt als durch sein früheres Lotterleben geschadet. Hier unter diesen Tapferen war keiner, der sich in Überfluß und Genußsucht verweichlicht oder in der Hoffnung, aus einem armen Schelm dermaleint snoch ein reicher Mann zu werden, lange besonnen hätte, der Gefahr ins An­ gesicht zu sehen. Sie alle hatten kein größeres Verlangen, als gegen den Landesfeind zu kämpfen, kannten keinen schöneren

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Tod als den fürs Vaterland und, ohne ihr Leben im Kampfe gegen die Feinde zu wagen, hatten auch andere Güter in ihren Augen keinen Wert. Während sie auf den Sieg, den immer ungewissen, nur hoffen konnten, gingen sie im Vertrauen auf ihre eigene Kraft in den Kampf. Und indem sie lieber tapfer kämpfen und sterben, als durch feige Flucht ihr Leben retten wollten, haben sie ihren Heldenmut durch die Tat bewiesen und brauchen keine Lästerzunge zu fürchten. So sind sie in kurzer Schicksalsstunde, vom höchsten Ruhmesglanz umstrahlt, den Heldentod gestorben.

„Diese Tapferen haben ihre Schuldigkeit getan, indem sie für die Stadt ihr Leben ließen. Mögen die Überlebenden immerhin wünschen, daß es ihnen nicht auch das Leben kostet, darum aber doch nicht minder entschlossen sein, es mutig gegen den Landesfeind einzusetzen. Wozu, - das braucht ihr euch von einem Redner, der das nicht besser weiß als ihr, durch einen Vortrag über den Nutzen der Tapferkeit nicht erst aus­ einandersetzen zu lassen; nein, macht nur die Augen auf, um euch tagtäglich von der Macht und Schönheit unserer Stadt zu überzeugen und euch recht eigentlich in sie zu verlieben. Und wenn ihr euch dann ihrer Größe freut, so vergeßt nicht, daß kühne und von Ehrgefühl beseelte Männer, welche wußten, waS ihre Schuldigkeit war, uns das zuwege gebracht haben, Männer, die nicht nach jedem Mißerfolg den Mut sinken ließen, sondern immer wieder bereit waren, ihr Leben auf dem Altar des Vaterlandes zu opfern. Dafür aber, daß sie ihr Leben fürs Vaterland hingegeben haben, ist ihnen denn auch unsterb­ licher Ruhm und das herrlichste Grabmal zuteil geworden, nicht hier, mein' ich, wo sie beigesetzt worden sind, sondern überall da, wo ihr Ruhm fortlebt und sich ein Anlaß bietet, ihrer durch Wort oder Tat zu gedenken. Denn das Grabmal be­ rühmter Männer sind alle Lande, und nicht nur in der Heimat kündet die Inschrift auf dem Grabstein ihren Ruhm, sondern auch in der Fremde bleibt, wenn nicht ihre Tat, so doch ihr Mut auch ungeschrieben bei jedermann in lebendigem Ge­ dächtnis. Sie also nehmt euch zum Beispiel; erblickt auch ihr

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das Glück in der Freiheit, die Freiheit in der Tapferkeit, und steht auch ihr euren Mann, wenn euch von Feinden Gefahr droht! Denn wo man nur ein kümmerliches Dasein führt und nichts Besseres zu hoffen hat, hat man auch keinen Grund, sein Leben in die Schanze zu schlagen, wohl aber da, wo man bei einem Umschwung der Dinge was zu verlieren hat und ein unglücklicher Krieg so viel ausmacht. Dem Mutigen ist feige Jämmerlichkeit schmerzlicher als der Tod, den er im Hochgefühl der Kraft und in der Freudigkeit des Sieges als kein Übel empfindet.

„Darum will ich auch euch, die hier anwesenden Eltern dieser Tapferen, nicht beklagen, sondern zu trösten suchen. Glück und Unglück, das wißt ihr, wechseln beständig im menschlichen Leben; glücklich, wem ein so schönes Ende wie ihnen oder eine so edle Trauer wie euch zuteil wird, wem nach einem glück­ lichen Leben auch ein glücklicher Tod beschieden ist. Ich weiß, es ist schwer, euch über einen Verlust zu trösten, an den ihr, wenn ihr andere ein Glück genießen seht, dessen ihr euch einst auch freuen durftet, immer von neuem erinnert werdet. Ein Glück, das man nie gekannt, zu entbehren, tut nicht weh, weh aber, ein Glück zu verlieren, an das man gewöhnt war. Wer von euch noch in dem Alter ist, daß er auf Kinder hoffen kann, mag sich an solcher Hoffnung aufrichten. Die neuen Kinder werden den Eltern ein Trost für die verlorenen sein, die Stadt aber wird davon den doppelten Vorteil haben, daß sie an Bürgern nicht ärmer wird und an Sicherheit gewinnt. Wer nicht selbst auch Kinder zu verlieren hat, dem wird da, wo es sich um Fragen des Gemeinwohls handelt, auch das volle Ver­ ständnis für die Gefühle und Interessen seiner Mitbürger fehlen. Ihr aber, die ihr über dies Alter hinaus seid, freut euch, daß ihr den größten Teil eures Lebens glücklich gewesen seid, und daß es bald mit euern Tagen zur Neige geht, und zehrt hinfort vom Ruhme eurer Söhne; denn nur der Ehrgeiz altert nicht, und das, woran sich das tatenlose Alter am meisten freut, ist nicht, wie man wohl behauptet, das Geld, sondern die Ehre.

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„Euch freilich, ihr hier anwesenden Söhne und Brüder dieser Helden, fürcht' ich, wird es schwer werden, mit ihnen um den Ruhmespreis zu ringen. Denn die Toten pflegt jeder zu rühmen, und auch bei der größten Tapferkeit wird man euch nicht für ihresgleichen, sondern für etwas weniger halten. Denn den Lebenden, der sich hervortut, beneidet man, dem Toten aber, der uns nicht mehr im Wege steht, gönnt man neidlos seine Ehre. Und wenn ich zuletzt auch noch ein Wort über die Tugenden der Frauen sagen soll, die jetzt in den Witwenstand versetzt sind, so kann ich mich ganz kurz auf einen guten Rat beschränken. Euer höchster Ruhm wird sein, echter Weiblichkeit nichts zu vergeben, und die wird für die beste gelten, von der in Lob und Tadel unter Männern am wenigsten die Rede ist.

„Damit hätte ich nun, um der einmal eingeführten Ord­ nung zu genügen, zu Ehren dieser Toten auch eine Rede ge­ halten; durch die Tat aber sind sie bereits durch dieses Be­ gräbnis sowie dadurch geehrt, daß die Stadt ihre Kinder, bis sie zu ihren Jahren kommen, auf öffentliche Kosten erziehen läßt, eine Auszeichnung, womit die Stadt sie und ihre Hinter­ bliebenen für so hervorragende Leistungen zweckmäßig belohnt. Denn wo der Tapferkeit der höchste Lohn winkt, wird man auch die tapfersten Bürger haben. Nun noch eine Träne am Grabe eurer Lieben, und dann geht nach Hause."

Auf diese Weise wurde die Leichenfeier in diesem Winter gehalten, mit dessen Ablauf das erste Kriegsjahr zu Ende ging. Gleich im Beginn des Sommers fielen die Peloponnesier und ihre Bundesgenossen wie schon das erstemal mit zwei Dritteln ihrer Mannschaft von neuem nach Attika ein, wo sie ein Lager bezogen und das Land verheerten. Den Oberbefehl führte Archidamos, Zeuxidamos' Sohn, König der Lakedämonier. Sie waren erst wenige Tage in Attika, als sich in Athen die ersten Anfänge der Pest zeigten, die, wie es heißt, auch früher schon mehrfach, namentlich in Lemnos und anderswo, aufgetreten war, aber, soweit man sich erinnerte, niemals so furchtbar ge­ wütet und die Menschen so massenhaft hingerafft hatte. Auch

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die Ärzte, die sie noch nicht kannten und anfangs nicht zu be­ handeln wußten, waren ihr gegenüber machtlos, ja, sie sielen ihr, weit sie beständig mit ihr in Berührung kamen, grade selbst am meisten zum Opfer. Auch andere menschliche Kunst half nichts dagegen. Alles Beten in Tempeln, alles Anfragen bei Orakeln und dergleichen war umsonst, und so unterließ man schließlich auch das und ergab sich in sein Schicksal.

Entstanden sein soll sie zuerst in Äthiopien oberhalb Ägyptens, von wo sie sich dann nach Ägypten und Libyen und einen großen Teil des persischen Reiches verbreitete. Ganz plötzlich trat sie dann auch in Athen auf, und zwar kamen die ersten Erkrankungen im Peiraieus vor, ja, es hieß sogar, die Peloponnesier hätten die Brunnen vergiftet; denn damals gab es dort noch keine Röhrenbrunnen. Später kam sie auch in die obere Stadt, und nun erst fing das große Sterben an. Ich überlasse es jedem, er sei Arzt oder Laie, seine Meinung darüber zu äußern, woher sie wahrscheinlich entstanden ist und weshalb sie so merkwürdige Erscheinungen zur Folge haben konnte; ich will nur angeben, wie sie wirklich auftrat, und sie so beschreiben, daß man, falls sie mal wiederkommt, hin­ länglich über sie unterrichtet ist, um sie zu erkennen; denn ich habe sie selbst gehabt und auch andere, die von ihr befallen waren, selbst gesehen.

So viel steht fest, daß in dem Jahre andere Krankheiten so gut wie gar nicht vorkamen, und daß, wenn einem was fehlte, immer diese Krankheit daraus wurde. Bei anderen, bis dahin völlig Gesunden, stellte sich ohne jede äußere Ver­ anlassung plötzlich große Hitze im Kopfe ein mit Röte und Entzündung der Augen. Inwendig wurden Schlund und Zunge gleich blutrot, der Atem widerlich und übelriechend, dazu kam Niesen und Heiserkeit, und nach kurzer Zeit drang die Krank­ heit in die Brust bei starkem Husten. Wenn sie sich auf den Magen warf, kehrte sie ihn um, und es erfolgten alle Ent­ leerungen der Galle, für welche die Ärzte einen Namen haben, und zwar unter großen Schmerzen. Meist kam es dabei zu einem leeren Würgen, verbunden mit heftigem Krampf, was

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bei einigen bald vorüberging, bei anderen aber erst nach längerer Zeit aufhörte. Äußerlich fühlte sich der Körper nicht übermäßig warm an; er war nicht blaß, sondern etwas gerötet, wie mit Blut unterlaufen, und überall mit kleinen Pusteln und Geschwüren bedeckt. Inwendig aber war die Hitze so groß, daß die Menschen es selbst in den leichtesten Kleidern und unter dem feinsten Leinen nicht aushalten konnten, sondern sich alles vom Leibe rissen und sich am liebsten in kaltes Wasser gestürzt hätten, und viele, die sich selbst überlassen waren, taten das auch und sprangen in die Brunnen, weil sie von unauf­ hörlichem Durst gequält wurden, sie mochten trinken, so viel sie wollten. Dazu litt der Kranke beständig an Unruhe und Schlaflosigkeit. Auch wenn die Krankheit länger anhielt, ver­ fiel der Körper dabei nicht, sondern zeigte sich unerwartet widerstandsfähig, so daß die Kranken meist noch ziemlich bei Kräften am neunten oder ; siebenten Tage an innerer Hitze tsarben. Überstanden sie das aber, so warf sich die Krankheit auf den Unterleib, es stellten sich Geschwüre und tsarker Durch­ fall ein, und dann starben sie meist an Entkräftung. Denn das Übel, das im Kopfe anfing, durchzog den ganzen Körper von oben bis unten. Hatte einer das Schlimmste überstanden, so zeigte sich das daran, daß die Krankheit die Extremitäten ergriff; sie warf sich dann auf die Scham teile, auf Finger und Zehen, so daß viele, die mit dem Leben davonkamen, diese Körperteile, manche auch die Augen einbüßten. Einige hatten, wenn sie die Krankheit überstanden, auch das Gedächtnis verloren und kannten sich selbst und ihre Angehörigen nicht mehr.

Das Unheimliche und Auffallende an dieser Krankheit war, daß sie nicht nur die Menschen so grausam hinraffte, sondern daß auch Vögel und andere Tiere, welche sonst Leichen anfressen, die vielen unbeerdigt gebliebenen Toten überhaupt nicht anrührten oder^D^starben, wenn sie davon fraßen, wie sich das daran zeigte, daß solche Vögel gänzlich verschwunden waren und sich bei den Leichen gar nicht mehr sehen ließen. Am besten konnte man das an den Hunden beobachten, weil sie in Gemeinschaft mit den Menschen leben.

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Das war, abgesehen von mancherlei besonderen Er­ scheinungen, wie sie sich hier und da zeigten, im allgemeinen die Gestalt, in der die Krankheit auftrat. Andere gewöhnliche Krankheiten aber kamen in jener Zeit nicht vor, und wenn es etwa doch der Fall war, schlugen sie in diese um. Die Menschen starben, mochten sie sich selbst überlassen oder aufs beste ver­ pflegt sein. Es gab in der Tat kein Mittel, das man dagegen mit einiger Aussicht auf Erfolg hätte anwenden können; denn^ was dem einen nützte, schadete dem anderen. Der Krankheit gegenüber verschlug es nichts, ob einer von Haus aus eine feste Gesundheit hatte oder nicht; sie raffte alles hin auch bei der sorgfältigsten Behandlung. Das Schlimmste war die Mut­ losigkeit, wenn einer sich krank fühlte, daß er sich in der Ver­ zweiflung gleich völlig aufgab und keinen Widerstand mehr leistete, und daß infolge der Ansteckung die Menschen starben wie die Fliegen. Und das war grade ein Hauptgrund der großen Sterblichkeit. Denn wenn man es aus Furcht vor An­ steckung vermied, mit den Kranken in Berührung zu kommen, und niemand sich ihrer annahm, so starben diese, wie denn in der Tat manche Häuser, wo es an Pflege fehlte, völlig aus-^ starben. Wer aber die Kranken besuchte, war selbst ein Kind des Todes, und das traf grade vorzugsweise die Mutigen, die es für Pflicht hielten, ihren Mitmenschen hilfreich beizustehen. Denn die sahen es für Ehrensache an, sich selbst nicht zu schonen und ihre Freunde zu besuchen, da deren Angehörige, durch das grenzenlose Elend gebrochen, es schließlich müde wurden, an den Sterbebetten zu jammern. Am meisten aber^ erbarmten sich solche der Kranken und Sterbenden, welche die ^ Krankheit selbst bereits überstanden hatten, weil sie sie aus Erfahrung kannten und sich selbst jetzt davor sicher wußten. Denn zum zweitenmal kriegte sie niemand so, daß er daran gestorben wäre. Darum wurden sie von anderen glücklich ge­ priesen und waren selbst froh, daß sie für diesmal glücklich durchgekommen waren und immerhin hoffen durften, auch bei einer etwaigen neuen Erkrankung wenigstens mit dem Leben davonzukommen.

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Zu allem Elend kam dann noch der Zusammenfluß so vieler Menschen vom Lande in die Stadt, und diese selbst hatten darunter am meisten zu leiden. Denn da sie nicht Häuser genug vorfanden und die Sommerzeit in heißen und dumpfigen Buden zubringen mußten, trat unter ihnen ein grauenhaftes Sterben ein. So wie sie übereinander verreckten, blieben sie als Leichen liegen, oder sie wälzten sich halbtot auf den Straßen oder vor Gier nach Wasser um die Brunnen. Selbst die Tempel, in denen sie untergekommen und dann gestorben waren, tagen voller Leichen. Bei dem grenzenlosen Elend wußten die Menschen eben nicht mehr, was sie anfangen sollten, und kümmerten sich nicht länger um Religion und fromme Sitte. Auch über alles, was bis dahin bei Begräbnissen Rechtens ge­ wesen war, setzte man sich hinweg, und jeder begrub seine Toten, so gut er konnte. Manche gingen dabei gradezu scham­ los zu Werke, weil ihnen schon so viele gestorben waren, daß es ihnen an den nötigen Mitteln für ein Begräbnis fehlte. Sie legten ihre Toten auf fremde Scheiterhaufen und zündeten sie an, ehe die Leute, die sie aufgeschichtet hatten, dazu kamen, oder warfen die mitgebrachte Leiche auf den ersten besten, schon brennenden Scheiterhaufen und machten dann, daß sie wegkamen.

Überhaupt war die Pest für Athen der Anfang mehr und mehr um sich greifender Gesetzlosigkeit. Dinge, denen man früher höchstens im geheimen gefrönt, trieb man jetzt mit schamloser Offenheit; hatte man doch die schnellen Glückswechsel vor Augen, wie die Reichen plötzlich starben und Leute, die bis dahin nichts gehabt, mit einmal in den Besitz ihres Ver­ mögens gelangten. Alles trachtete nach hastigem Genuß und stürzte sich in den Taumel der Sinnenlust, da es ja mit dem Leben wie mit dem Gelde über Nacht vorbei sein konnte. Für einen guten Zweck sich abzumühen, hatte keiner mehr Lust; denn wer sagte ihm, ob er nicht längst tot sein würde, bevor er ihn erreicht? Schon der Genuß an sich und alles, waS irgendwie dazu beitragen konnte, galt ohne weiteres auch für gut und löblich. Weder Furcht vor den Göttern noch menshc­ [*]( I )

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liches Gesetz wehrte dem Verbrechen; denn da man alle ohne Unterschied tserben sah, schien es ja doch einerlei zu sein, ob man die Götter fürchtete oder nicht, und niemand glaubte, daß er noch so lange leben würde, bis eine bürgerliche Strafe für seine Verbrechen über ihn verhängt werden könnte; schwebte doch schon ein weit schwereres Verhängnis über seinem Haupte, und bis das auf ihn hereinbrach, wollte er wenigstens sein Leben noch genießen.

So waren die Athener damals in großer Not, in der Stadt starben ihnen die Menschen, und draußen verwüstete der Feind ihr Land. Kein Wunder, daß sie sich in dieser Not auch der Weissagung erinnerten, die ihnen, wie die alten Leute versicherten, vorzeiten mal verkündet worden war: „Es wird kommen der dorische Krieg und damit die Seuche." Nun entstand freilich Streit darüber, ob es in dem alten Spruche die Seuche (Loimos) oder die Hungersnot (Limos) geheißen habe. Unter den damaligen Umständen aber behielt natürlich die Ansicht die Oberhand, daß es die Seuche ge­ heißen, weil man ihn eben dem anpaßte, was man selbst er­ lebte; und ich glaube, wenn einmal wieder ein dorischer Krieg käme und dabei eine Hungersnot einträte, so würde man sich den Spruch wahrscheinlich auch danach zurechtlegen. Allen aber, denen sie bekannt geworden, fiel nun auch die Antwort ein, welche das Orakel den Lakedämoniern auf die Frage, ob sie Krieg anfangen sollten, erteilt hatte: „wenn sie den Krieg nachdrücklich führten, würden sie siegen und der Gott selbst werde auf ihrer Seite sein"; und da fand man nun, daß der bisherige Verlauf der Sache dem völlig entspräche. Denn gleich nach dem Einfall der Peloponnesier war die Pest aus­ gebrochen, der Peloponnes aber so gut wie ganz davon ver­ schont geblieben. Am ärgsten dagegen war sie grade in Athen und danach auch in anderen besonders volkreichen Orten auf­ getreten. So viel von der Pest und ihren Folgen.