History of the Peloponnesian War

Thucydides

Thucydides. Geschichte des Peloponnesischen Kriegs. Braun, Theodor, translator. Leipzig: Insel-Verlag, 1917.

„Überlegt euch also, ob ihr klein beigeben wollt, ehe ihr zu Schaden kommt, oder ob wir, was ich für das beste halte, Krieg führen und, mögen sie viel oder wenig fordern, unter keinen Umständen nachgeben und unseren Besitz furchtlos be­ haupten wollen. Denn jede Forderung, ob groß oder klein, die man gegen seinesgleichen ohne Urteil und Recht durchsetzt, bedeutet Knechtschaft. Daß wir ihnen mit unseren Streitkräften und Hilfsmitteln gewahcsen sind, werde ich euch jetzt im ein­ zelnen auseinandersetzen. Hört zu. Die Peloponnesier sind Bauern, die von ihrer Hände Arbeit leben; Geld haben sie nicht, weder der einzelne noch der Staat. Auf lange, über­

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seeische Kriege verstehen sie sich nicht, da sie ihrer Armut wegen untereinander immer nur kurze Kriege führen. Flotten aus­ rüsten können sie nicht und ebensowenig öfter mit Heeren ins Feld ziehen, weil sie sich dabei von Haus und Hof entfernen und auf eigene Kosten leben müssen und ihnen noch dazu die See verschlossen ist. Auch hält man einen Krieg leichter durch, wenn man einen vollen Staatsschatz hat und keine Steuer­ schraube dazu anzusetzen braucht. Der Bauer setzt im Kriege lieber seine Person ein als sein Geld, weil er darauf rechnet, selbst allenfalls mit heiler Haut davonzukommen, während er darauf gefaßt sein muß, sein Hab und Gut im Laufe deS Krieges draufgehen zu sehen, zumal wenn der Krieg, wie dies­ mal doch wahrscheinlich, sich über Erwarten in die Länge zieht. In einer einzelnen Schlacht können es die Peloponnesier und ihre Verbündeten mit ganz Griechenland aufnehmen, einen Krieg aber gegen einen besser gerüsteten Gegner vermögen sie nicht zu führen, solange sie keine einheitliche BundeSgewalt haben und deshalb zu rashcem Handeln unfähig sind; denn bei gleichem Stimmrecht und Stammesverschiedenheit, wobei jeder nur seine besonderen Interessen im Auge hat, kommt so leicht nichts Zweckdienliches zustande. Da will der eine diesem oder jenem zu Leibe gehen, der andere selbst nur möglichst ungeschoren bleiben. Auf ihren Tagsatzungen, wenn es wirklich mal dazu kommt, ist wohl hin und wieder auch von gemein­ samen Aufgaben des Bundes die Rede, zumeist aber handelt eS sich auch hier nur um Angelegenheiten und Sonderinteressen der Einzelstaaten. Jeder glaubt, es werde auch wohl ohne ihn gehen oder ein anderer werde die Sache für ihn schon mit­ besorgen, und eben weil das alle glauben, merken sie nicht, daß aus der Sache überhaupt nichts wird.

„Das Wichtigste aber ist, daß ihnen der Mangel an Geld stets die Hände binden wird, solange sie sich so wenig beeilen, sich damit zu rechter Zeit zu versehen. Die Gelegenheiten im Kriege warten nicht. Auch vor ihren Trutzwerken und Flotten brauchen wir unS nicht zu fürchten. Ein Trutz-Athen zu bauen, würde ihnen schon im Frieden schwer werden, und nun gar

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in Feindesland, und wo auch wir unsere Grenzfestungen gegen sie haben. Sollten sie wirklich irgendeinen kleineren Platz befestigen, so könnten sie uns freilich von dort einen einzelnen Landesteil durch Streifzüge verheeren und unsere Leute zum Ausreißen verlocken, uns aber dadurch nicht hindern, ihnen zu Schiff ins Land zu fallen, um dort auch Festungen anzu­ legen und sie mit unserer überlegenen Flotte zu bekämpfen. Wir haben im Seekriege mehr für den Landkrieg gelernt als sie in ihren Festtandskriegen für den Krieg zur See. Und so leicht werden sie es-nicht dahinbringen, auch tüchtige See­ leute zu werden. Sind wir doch selbst hier in Athen, wo man sich schon seit den Perserkriegen auf die See geworfen hat, in dieser Beziehung immer noch in den Lehrjahren. Wie sollten denn diese Bauern, diese Landratten, gleich brauchbare Seeleute werden, zumal wenn wir mit unseren vielen Schiffen sie in ihre Häfen einsperren und es ihnen dadurch unmöglich machen, sich im Seedienst zu üben. Möglich, daß sie sich im Vertrauen auf ihre Überzahl mal zu einem Gefecht mit ein paar Blockadeschiffen herauswagen; aber einer großen Flotte gegenüber werden sie sich draußen nicht blicken lassen und deshalb bei dem Mangel an Übung immer Stümper bleiben, darum aber auch keine sonderliche Lust zum Fechten haben. Das Seemannshandwerk ist eine Kunst wie nur eine, die man nicht nur so gelegentlich nebenher treiben kann, sondern auf die man sich mit ganzer Kraft verlegen muß.

„Sollten sie wirklich die Tempelschätze von Olympia und Delphi angreifen und versuchen, uns unser fremdes Schiffs­ volk durch höhere Löhne abwendig zu machen, so wäre daS freilich schlimm, wenn wir nicht unter unseren Bürgern und Schutzverwandten selbst die nötige Mannschaft für unsere Flotte hätten. Aber die haben wir auch, und, was die Hauptsache ist, unsere Steuerleute sind Athener, wie wir denn überhaupt eine zahlreichere und tüchtigere seemännische Bevölkerung haben als das ganze übrige Griechenland. Ja selbst von unserem fremden Schiffsvolk würde sich aus Furcht, heimatlos zu werden, so leicht keiner dazu verstehen, bei sonst schlechten Aussichten

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für ein paar Tage höheren Lohns in ihre Dienste zu treten. So etwa steht es meiner Meinung nach bei den Peloponnesiern. Bei unS aber sind nicht nur die bei ihnen angedeuteten Schwie­ rigkeiten nicht vorhanden, sondern wir befinden uns überhaupt in einer ungleich günstigeren Lage. Kommen sie uns zu Lande, so kommen wir ihnen zu Schiff, und es bedeutet mehr, wenn wir ihnen einen Teil des Peloponnes, als wenn sie uns ganz Attika verwüsten; denn sie haben weiter kein Land, auf das sie greifen könnten, sie müßten es denn erst erobern; wir aber haben auch sonst noch Land die Menge, auf den Inseln sowohl wie auf dem Festlande. Die See ist ein mächtiges Bollwerk. Nehmt mal an, wir wohnten auf einer Insel; wer könnte uns was anhaben? Dem müssen wir jetzt möglichst nahe zu kommen suchen, uns auf die Stadt und die See beschränken, das platte Land aber und unsere Besitzungen dort drangeben und uns ja nicht aus Verdruß darüber zu einer Schlacht mit den uns an Zahl überlegenen Peloponnesiern verleiten lassen; denn wenn wir die auch gewönnen, würden wir es alsbald mit ebensoviel Feinden wieder zu tun haben; würden wir aber geschlagen, so wäre es damit auch um unsere Bundesgenossen, das will sagen, um unsere Machtstellung geschehen; denn die stehen auf, sobald wir sie nicht mehr mit Waffengewalt nieder- halten können. Denken wir also nicht an Häuser und Felder, sondern an uns selbst; denn die sind der Menschen wegen, nicht aber die Menschen ihretwegen da. Ja, wenn ich nur hoffen dürfte, euch dazu zu überreden, so würde ich euch vor­ schlagen, gleich selbst hinauszuziehen und sie zu verwüsten, um den Peloponnesiern zu beweisen, daß sie euch damit nicht unter­ kriegen.

„Nach meiner Überzeugung können wir noch aus manchen anderen Gründen darauf rechnen, als Sieger auS dem Kampfe hervorzugehen, nur dürft ihr nicht zugleich Krieg führen und neue Eroberungen machen wollen und euch dadurch nicht in weitere Gefahren stürzen. Unsere eigenen Fehler fürchte ich nämlich mehr als unsere Feinde. Doch davon ein andermal, wenn es wirklich zum Kriege kommt. Jetzt wollen wir zunächst

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die Gesandten abfertigen und ihnen folgende Antwort mit­ geben :

Wir werden den Megarern unseren Markt und unsere Häfen öffnen, wenn auch die Lakedämonier es aufgeben, Athener und deren Bundesgenossen auszuweisen - unzulässig nach dem Vertrage ist eins so wenig wie das andere wir werden auch die Unabhängigkeit der Bundesgenossen anerkennen, so­ fern diese zur Zeit des Friedensschlusses unabhängig gewesen sind, wenn auch die Lakedämonier ihren Städten gestatten, sich nach eigenem Ermessen und nicht nur nach Belieben der Lake­ dämonier zu regieren. Auch sind wir bereit, uns in Gemäß­ heit des Vertrags einer schiedsrihcterlichen Entscheidung zu unterwerfen. Krieg werden wir nicht anfangen, uns aber zur Wehr setzen, wenn man uns angreift/ Das ist eine Ant­ wort, wie sie sich gehört und der Würde unserer Stadt ent­ spricht. Denn so viel kann ich euch sagen, um den Krieg kommen wir nicht herum. Die Feinde aber werden um so weniger darauf erpicht sein, je bereitwilliger wir sind, ihn aufzunehmen. Viel Feind, viel Ehr, daS gilt von Staaten wie von einzelnen. Haben es doch unsere Väter mit den Per­ sern aufgenommen, obgleich sie längst nicht die Mittel hatten wie wir, ja sogar Hab und Gut im Stich lassen mußten und es nicht etwa ihrem Glück und ihrer Macht, sondern allein ihrem Mut und ihrer Entschlossenheit verdanken, daß sie die Fremden besiegt und Athen zu dem gemacht haben, was eS heute ist. Wir wollen es machen wie sie und alles dran­ setzen, uns unserer Feinde zu erwehren, um unsere Stadt auch unseren Nachkommen so groß und mächtig zu hinter­ lassen."

So Perikles. Die Athener aber pflichteten ihm bei und nahmen seine Vorschläge an. Sie antworteten denn auch den Lakedämoniern in seinem Sinne, und zwar wörtlich so, wie er vorgeschlagen hatte, der Hauptsache nach also, sie ließen sich von ihnen nichts befehlen, seien aber bereit, unter Wahrung voller Rechtsgleichheit die Streitigkeiten in Gemäßheit des Ver­ trags schiedsrihcterlich austragen zu lassen. Damit reisten die

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Gesandten wieder ab, und die Lakedämonier schickten dann auch weiter keine mehr.

Das waren die Beshcwerden und Streitigkeiten zwischen beiden Teilen vor Ausbruch des Krieges, welche gleich mit den Ereignissen von Epidamnos und Kerkyra einsetzten. Einstweilen war der Verkehr unter ihnen aber noch nicht abgebrochen. Man reiste noch ohne Heroldsgeleit hin und her, wiewohl man sich gegenseitig schon nicht mehr traute. Denn nach dem, waS vorgekommen, war der Bruch erfolgt und der Krieg in Sicht.

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Hier beginnt nun der wirkliche Krieg zwischen den Athenern und den Peloponnesiern und ihren beiderseitigen Bundesgenossen, in dem sie ohne Heroldsgeleit nicht mehr mit­ einander verkehrten und sich beständig in Waffen gegenüber- standen. Was sich darin im einzelnen ereignet hat, wird hier Jahr für Jahr nach Sommer und Winter der Reihe nach erzählt.

Vierzehn Jahre hatte der nach der Eroberung von Euboia geschlossene dreißigjährige Friede vorgehalten. Im fünfzehnten Jahre aber, als Drysis ahctundvierzig Jahre Priesterin in Argos, Ainesios Ephor in Sparta und das Amtsjahr des Archon ^Pythodoros in Athen bis auf vier Monate abgelaufen war, im sechsten Monat nach der Schlacht bei Potidäa, zu Anfang des Frühlings überfiel eine Anzahl bewaffneter Thebaner, etwas über dreihundert Mann, unter den Böotarchen Pythangelos, Phyleides' Sohn, und Diemporos, Onetorides' Sohn, das mit Athen verbündete böotische Platää und drang, als die Einwohner eben im ersten Schlafe lagen, in die Stadt. Bürger von Platää, Naukleides und seine Anhänger, waren es, die sie gerufen und ihnen das Stadttor geöffnet hatten, weil sie, um selbst ans Ruder zu kommen, ihre Gegner in der Bürger­ schaft stürzen und die Stadt den Thebanern in die Hände spielen wollten. Eurymachos, Leontiades' Sohn, ein besonders einflußreicher Mann in Theben, hatte dabei den Mittelsmann gemacht. Denn da die Thebaner den Krieg kommen sahen, wollten sie Platää, ihre alte Feindin, lieber im Frieden, bevor es förmlich zum Kriege käme, noch schnell in ihre Gewalt bringen. So konnten sie auch um so leichter unbemerkt in die Stadt gelangen, da keine Wachen ausgestellt waren. Als sie hier auf dem Markte haltmachten, forderten ihre Freunde, die sie gerufen hatten, sie dazu auf, gleich in die Häuser der Gegner zu dringen und kurzen Prozeß mit ihnen zu machen. Darauf gingen sie jedoch nicht ein, beschlossen vielmehr, eine versöhnliche Kundgebung zu erlassen, um die Bürgerschaft zu einem gütlichen Vergleich zu bewegen, und ließen auch öffentlich

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ausrufen, alle guten Böotier, welche für den alten Bund wären, möchten sich waffnen und ihnen anschließen. Auf diese Weise hofften sie die Stadt leicht zu sich herüberziehen zu können.

Als die Platäer gewahr wurden, daß die Thebaner ein­ gedrungen waren und ihre Stadt so im Handumdrehen erobert hatten, wurden sie bange, und weil sie die Zahl der Eingedrun­ genen im Dunkeln nicht deutlich erkennen konnten und für weit größer hielten, als sie wirklich war, verstanden sie sich zu einem Vergleich, gingen auf ihre Vorschläge ein und hielten sich ruhig, zumal man bis dahin noch keinem was zuleide getan hatte. Inzwischen überzeugten sie sich jedoch, daß die Thebaner gar nicht so zahlreich waren und durch einen entschlossenen Angriff anscheinend leicht überwältigt werden könnten; denn die große Mehrzahl der Platäer war keineswegs gemeint, sich von den Athenern zu trennen. Sie beschlossen also, sie an­ zugreifen, rotteten sich zusammen, indem sie, um auf der Straße nicht gesehen zu werden, die Wände zwischen den Häusern durchbrachen, verrammelten die Straßen durch ausgespannte Frachtwagen und trafen auch sonst alle ihnen in dem Augen­ blick zweckmäßig erscheinenden Maßregeln. Als alles so weit vorbereitet war, nahmen sie die Nacht oder doch die Dämmerung noch wahr, um aus den Häusern über sie herzufallen, denn bei Hellem Tage wären die Thebaner mutiger und nicht weiter im Nachteil gewesen, während sie so in banger Nacht bei ihrer Ortskenntnis den Fremden gegenüber im Vorteil waren. Auch kam es sogleich zum Angriff und damit zum Hand­ gemenge.

Als die Thebaner sahen, daß sie überlistet waren, schlossen sie sich eng zusammen, um den Feinden nach allen Seiten die Spitze bieten zu können, schlugen auch zwei- oder dreimal einen Angriff ab. Da jedoch die Platäer von neuem ungestüm auf sie eindrangen und auch Frauen und Sklaven mit wildem .Geschrei ihnen Steine und Dachziegel von den Häusern auf die Köpfe warfen, dazu noch in der Nacht viel Regen gefallen war, kriegten sie es mit der Angst, ergriffen die Flucht und zerstreuten sich in der Stadt. Und da die meisten hier nicht [*]( I )

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Bescheid wußten und in Kot und Dunkelheit - denn es war Neumond - den rechten Weg nicht finden und ihren Ver­ folgern, denen jedes Gäßchen bekannt war, nicht entrinnen konnten, so kamen die meisten um. Auch das Tor, durch das sie eingedrungen, das einzige, welches offen war, verschloß ein Platäer, indem er den Schaft seines Spießes anstatt des Pflockes durch den Querbalken stieß, so daß man auch da nicht mehr hinaus konnte. Da man sie in der Stadt überall verfolgte, stiegen einige auf die Stadtmauer und ließen sich nach außen hinabfallen, kamen dabei aber meist ums Leben. Einige ge­ langten durch ein unbewachtes Tor, dessen Querbalken sie mit einem Beil, das ihnen eine Frau gegeben, zerschlagen hatten, unbemerkt ins Freie, allerdings nicht viele, da es bald bemerkt wurde. Auch wurde manchem, der sich in der Stadt verlaufen hatte, der Garaus gemacht. Der größte Haufe aber, der noch einigermaßen zusammenhielt, geriet in ein geräumiges Haus an der Stadtmauer, dessen Torweg zufällig offen stand, in der Meinung, es sei das Stadttor und habe auf der anderen Seite einen Ausgang ins Freie. Als die Platäer sahen, daß sie sich hier gefangen hatten, waren sie unschlüssig, ob sie das Haus anstecken und alle bei lebendigem Leibe dann verbrennen oder was sie sonst mit ihnen anfangen sollten. Schließlich kam es zu einem Abkommen, wonach sie und alle noch am Leben befindlichen, in der Stadt umherirrenden Thebaner die Waffen streckten und sich den Platäern auf Gnade und Un­ gnade ergaben. So endete der Überfall von Platäa.

Als die anderen Thebaner, welche für den Fall, daß den Eindringlingen was in die Quere käme, schon in der Nacht mit ihrer Hauptmacht zur Stelle sein sollten, unterwegs die Nachricht erhielten, wie die Sache abgelaufen, beschleunigten sie ihren Marsch. Platää ist von Theben siebzig Stadien ent­ fernt, und da es über Nacht stark geregnet hatte, kamen sie nur langsam vorwärts. Der Asopos war hoch angeshcwollen. und schwer zu überschreiten. Und da sie im Regen marschieren mußten und beim Übergange über den Fluß viel Zeit verloren hatten, kamen sie zu spät, so daß ihre Landsleute entweder

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schon tot oder gefangen waren. Als sie das erfuhren, suchten sie die außerhalb der Stadt befindlichen Platäer einzufangen; denn da der Überfall so urplötzlich mitten im Frieden erfolgt war, waren noch Leute und Gerätschaften draußen auf dem Lande. Die eingefangenen Platäer aber sollten ihnen als Geiseln dienen für ihre noch am Leben befindlichen gefangenen Landsleute. Während sie sich die Sache noch überlegten, schickten die Platäer, die etwas der Art vermuteten und für ihre Leute draußen fürchteten, aus der Stadt einen Herold an sie ab und ließen ihnen sagen, es sei schon schweres Un­ recht gegen sie gewesen, mitten im Frieden einen solchen Ge­ waltstreich gegen ihre Stadt zu führen, und man solle sie jetzt draußen im Frieden lassen. Wo nicht, so würden auch sie die Gefangenen töten, denen sie bisher das Leben gelassen und die sie ihnen herausgeben würden, wenn sie ihr Gebiet räumten. So wenigstens sagen die Thebaner und versichern sogar, die Platäer hätten sich eidlich dazu verpflichtet. Die Platäer aber stellen in Abrede, die sofortige Herausgabe der Gefangenen versprochen zu haben, behaupten vielmehr, sie hätten sich dazu nur bereit erklärt, falls es auf Grund weiterer Verhandlungen zu einem Vergleich kommen würde, eidlich aber hätten sie sich überhaupt zu nichts verpflichtet. Die Thebaner räumten denn auch ihr Gebiet, ohne dort weiter Schaden zu tun. Die Pla­ täer aber brachten alles, was draußen war, schnell in die Stadt und töteten dann die Gefangenen auf der Stelle. Im ganzen waren es hundertundachtzig, unter ihnen auch Eurymachos, mit dem die Verräter die Sache eingefädelt hatten.

Hierauf sandten sie einen Boten nach Athen, gaben den Thebanern ihre Toten unter freiem Geleit heraus und richteten sich in der Stadt einstweilen auf eigene Hand ein. Die Athener aber, welche von den Ereignissen in Platää gleich Nachricht erhalten hatten, ließen sofort alle Böotier in Attika festnehmen und schickten einen Herold nach Platää mit der Weisung, den gefangenen Thebanern nichts weiter zuleide zu tun, bis man sich auch in Athen ihretwegen schlüssig gemacht hätte; denn davon, daß sie bereits getötet waren, hatten sie noch keine

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Nachricht. Ein erster Bote war nämlich gleich nach dem Ein­ bruch der Thebaner an sie abgegangen, der zweite unmittelbar nachdem sie überwältigt und in Gefangenschaft geraten waren. Seitdem hatten sie nichts weiter gehört. So sandten sie denn auch jetzt ihren Herold ab, ohne zu wissen, wie die Dinge in Platää tsanden, und als dieser dort ankam, fand er die Ge­ fangenen schon nicht mehr am Leben. Darauf schickten die Athener Truppen nach Platää, versahen die Stadt mit Lebens­ mitteln und ließen eine Besatzung darin zurück, nachdem sie die nicht wehrfähigen Männer sowie die Weiber und Kinder hinausgeschafft hatten.

Nachdem das Gewitter in Platää zum Ausbruch gekommen war, konnte natürlich vom Frieden keine Rede mehr sein, und die Athener rüsteten zum Kriege. Die Lakedämonier aber und ihre Bundesgenossen rüsteten ebenfalls. Auch schickten beide Teile gleich Gesandtschaften an den Perserkönig und solche barbarische Völkerschaften, von denen sie sich irgendwelche Hilfe versprachen, wie sie sich auch unter den unabhängigen Staaten nach Bundesgenossen umsahen. Die Lakedämonier wiesen die ihnen befreundeten Städte in Italien und Sizilien an, zur Verstärkung der auf fünfhundert Segel zu bringenden pelo­ ponnesischen Flotte je nach ihrer Größe eine Anzahl Schiffe einzustellen und sich auf bestimmte Geldleistungen einzurichten, im übrigen aber bis zur Vollendung der Rüstungen ruhig zu bleiben und auch die Athener, wenn sie nur mit einem einzelnen Schiffe kämen, nach wie vor in ihren Häfen zuzulassen. Die Athener aber musterten die Kräfte ihres Seebundes und be­ schickten namentlich auch die um den Peloponnes liegenden Orte, Kerkyra, Kephallenia, Akarnanien und Zakynthos, da ihnen einleuchtete, wenn sie mit denen auf gutem Fuße ständen, würden sie den Peloponnes von allen Seiten nachdrücklich bekämpfen können.

Beiden standen die Gedanken nicht niedrig, und sie stürzten sich mit vollem Eifer in den Krieg. Anfangs will eben jeder hoch hinaus, und zumal die zahlreiche Jugend, die es damals im Peloponnes sowohl wie in Attika gab, welche den Krieg

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noch nicht kannte, brannte vor Kriegslust. Ganz Griechenland abei^schwebte in banger Erwartung, als die beiden ersten Staaten gegeneinander in die Schranken traten. Man hörte viel von Weissagungen, und überall ließen sich Propheten ver­ nehmen, nicht nur in den zum Kriege rüstenden Staaten, sondern auch anderswo. Dazu war die Insel Delos kürzlich von einem Erdbeben betroffen, wo bis dahin, soweit man in Griechenland zurückdenken konnte, noch nie ein Erdbeben ge­ wesen war. Auch das, so hieß es und glaubte man, deute auf die Dinge hin, die da kommen sollten. Und allem, was sich der Art etwa sonst zugetragen, wurde eifrig nachgeforscht. Die öffentliche Meinung aber war ganz überwiegend für die Lakedämonier, schon weil sie die Freiheit Griechenlands auf ihre Fahne schrieben. Alle Welt, einzelne wie Staaten, konnte sich nicht genugtun, ihnen mit Wort und Tat be­ hilflich zu sein, und jeder glaubte, er müsse auch mit dabei sein, wenn aus der Sache was werden solle. So allgemein war die Erbitterung gegen die Athener; die einen wollten ihre Herrschaft abschütteln, die andern fürchteten, unter ihre Fuchtel zu geraten.

Mit solchen Rüstungen und Gesinnungen ging man in den Krieg. Bei Ausbruch des Krieges hatten beide Mächte folgende Bundesgenossen: Auf seiten der Lakedämonier waren sämtliche Peloponnesier innerhalb des Isthmus, mit Ausnahme der Argeier und der Achäer, die mit beiden in Frieden lebten. Nur die Pellener unter den Achäern nahmen gleich anfangs am Kriege teil, später dann aber auch alle übrigen. Außerhalb deS Pelo­ ponnes die Megarer, Phokier, Lokrer, Böotier, Amprakier, Leukadier und Anaktorier. Von diesen stellten die Korinther, Megarer, Sikyoner, Pellener, Eleer, Amprakier und Leukadier Schiffe, die Böotier, Phokier und Lokrer Reiterei, die übrigen Staaten Fußvolk. Das waren die Bundesgenossen der Lake­ dämonier. Auf seiten der Athener waren die Chier, Lesbier Platäer, die Messenier in Naupaktos, die meisten Akarnanier, die Kerkyräer, die Zakynther und die ihnen in den vershciedenen Ländern steuerplfichtigen Orte, das karische Küstenland, die

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Dorier an der karischen Grenze, Jonien, Hellespont, das thra­ kische Küstenland, die Inseln im Osten des Peloponnes bis Kreta und alle übrigen Kykladen außer Melos und Thera. Von diesen stellten die Chier, Lesbier und Kerkyräer Schiffe, die übrigen stellten Fußvolk und zahlten Geld. Das waren die Bundesgenossen und Kräfte, welche beiden Teilen für den Krieg zu Gebote tsanden.

Gleich nach dem Vorfall von Platää ließen die Lakedämo­ nier an die Städte im Peloponnes und ihre auswärtigen Bundesgenossen den Befehl ergehen, ihre Truppen marschbereit zu machen und mit dem Bedarf für einen Feldzug außer Landes zu versehen, um nach Attika einzufallen. Als alle damit zur bestimmten Zeit fertig waren, vereinigten sich die sämtlichen Streitkräfte, aus jeder Stadt zwei Drittel der vorhandenen Mannschaft, auf dem Isthmus. Als das ganze Heer hier bei­ sammen war, berief der lakedämonische König Archidamos, der in diesem Feldzuge den Oberbefehl führte, die Feldhauptleute aller Städte sowie die höheren Beamten und sonst angesehenen Personen zu einer Versammlung und redete sie also an:

„Peloponnesier und Bundesgenossen! Unsere Väter sind schon oft nicht nur im Peloponnes, sondern auch auswärts zu Felde gezogen, und die Älteren unter uns haben selbst auch schon mehrfach Kriege mitgemacht, allein mit einem so statt­ lichen Heere wie diesmal sind wir noch nie ins Feld gerückt. Aber es geht auch gegen eine mächtige Stadt, und darum treten auch wir so zahlreich und mit unseren besten Kräften auf den Plan. Ich darf erwarten, daß wir uns nicht schlechter zeigen werden als unsere Väter und unserem alten Ruhm auch diesmal Ehre machen werden. Denn ganz Griechenland sieht mit gespannter Erwartung auf diese unsere Unternehmung und wünscht uns dabei aus Haß gegen die Athener den besten Er­ folg. Wir dürfen uns jedoch nicht etwa im Vertrauen auf unsere Überzahl in Sicherheit wiegen und es in der Meinung, der Feind werde sich gar nicht an uns heranwagen, auf dem Marsche an der nötigen Vorsicht fehlen lassen, vielmehr muß nicht nur jeder Befehlshaber der verschiedenen Städte, sondern

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auch jeder einzelne Mann immer darauf gefaßt sein, daß es im nächsten Augenblick zum Gefecht kommen kann; denn im Kriege weiß man nie vorher, was kommt, und so ein Angriff erfolgt fast immer plötzlich und unangemeldet. Schon manch­ mal hat eine Minderheit, die auf ihrer Hut war, gegen einen überlegenen Feind glücklich gekämpft, weil dieser in seinem Übermut nicht aufgepaßt hatte. Bei einem Feldzuge in Feindes­ land muß man kühn, aber vorsichtig zu Werke gehen. Denn dann kann man den Feind herzhaft angreifen und hat von seinen Angriffen am wenigsten zu fürchten. Wir ziehen auch nicht gegen einen Feind, der sich nicht wehren könnte, sondern gegen eine Stadt, die in jeder Hinsicht vortrefflich gerüstet ist. Wir müssen also unbedingt darauf rechnen, daß es zur Schlacht kommen wird, und wenn sie sich dort auch nicht gleich dazu entschließen, solange wir noch in weiter Ferne sind, so doch ganz gewiß, wenn sie uns erst in ihrem Lande sengen und brennen und Hab und Gut vernichten sehen. Denn wer so was noch nicht erlebt, dem läuft die Galle über, wenn er es selbst mit ansehen muß. Und je weniger sich einer zu be­ herrshcen weiß, um so leidenschaftlicher wird er gleich drein­ schlagen. Von den Athenern aber muß man sich dessen be­ sonders versehen, da sie sich zwar berufen fühlen, andere zu beherrschen und fremde Länder zu verwüsten, aber nicht gewohnt sind, daß es ihnen auch so geht. Weil ihr denn gegen eine solche Stadt ins Feld zieht und dabei, je nachdem, euch und euren Vorfahren die größte Ehre oder aber die ärgste Schande machen werdet, so folgt euren Führern, wohin es auch geht, haltet vor allen Dingen auf Mannszucht und Wachsamkeit und tut stets willig, was euch befohlen wird. Nichts Schöneres und Verläßlicheres als solch ein großes Heer, das gleichsam von einem Willen und vom hohen Geiste der Ordnung be­ seelt scheint."

Nach diesen Worten entließ Archidamos die Versammlung und schickte nun zunächst den Spartaner Melesippos, Dia­ kritos' Sohn, nach Athen, um zu sehen, ob man dort jetzt nicht schon eher mit sich handeln ließe, nachdem man sich über­

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zeugt, daß das feindliche Heer bereits unterwegs war. Die Athener aber ließen ihn gar nicht in die Stadt und vor dem Volke auftreten; denn schon vorher hatte Perikles den Antrag durchgesetzt, daß weder ein Herold noch eine Gesandtschaft der Lakedämonier aus dem Felde angenommen werden sollte. Sie schickten ihn also, ohne ihn zu hören, wieder weg mit dem Befehl, noch an demselben Tage wieder über die Grenze zu sein und den Lakedämoniern zu sagen, wenn sie sonst was wollten, möchten sie erst wieder nach Hause gehen, ehe sie Gesandte schickten. Und damit er unterwegs mit niemand in Berührung käme, gaben sie ihm einige Leute zum Geleit mit. Als er an die Grenze gelangt und im Begriff war, sich von seinen Begleitern zu trennen, sagte er beim Abschied: „Dieser Tag wird für Griechenland der Anfang großen Herzeleids sein." Als er ins Lager zurückgekehrt war und Archidamos einsah, daß die Athener auf keinen Fall nachgeben würden, brach er unverzüglich mit dem Heere auf und rückte ihnen ins Land. Auch die Böotier ließen ihr Kontingent und ihre Reiterei zu den Peloponnesiern stoßen; mit ihren übrigen Truppen zogen sie nach Platää und verheerten das Land.

Schon während die Peloponnesier sich auf dem Isthmus sammelten und auf ihrem Marsche noch nicht nach Attika ge­ langt waren, vermutete Perikles, Xanthippos' Sohn, damals selbzehnter Feldherr in Athen, als er den Einfall kommen sah, daß Archidamos, als sein Gastfreund, aus persönlicher Freund­ schaft seine Besitzungen außerhalb der Stadt schonen und viel- leicht nicht mit verwüsten würde, oder daß wohl gar die Lake­ dämonier ihm Befehl dazu erteilen könnten, um Mißtrauen gegen ihn zu erregen, wie sie ja auch schon vorher seinetwegen die Sühne des Frevels verlangt hatten. Er erklärte deshalb den Athenern in der Volksversammlung, wenn Archidamos auch sein Gastfreund sei, so solle das seinen Mitbürgern nicht zum Schaden gereichen, und falls etwa die Feinde seine Häuser und Felder nicht ebenso verwüsten würden wie die übrigen, so trete er sie, um nicht in Verdacht zu kommen, hiermit der Stadt zu Eigentum ab. Wie früher riet er ihnen auch jetzt

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wieder, sich auf den Krieg einzurichten, vom Lande alles in die Stadt zu schaffen und sich draußen auf keine Schlacht ein­ zulassen, sondern sich auf die Verteidigung der Stadt zu be­ schränken, namentlich aber die Flotte, worin denn doch ihre Stärke bestehe, in guten Stand zu setzen. Die Bundesgenossen müßten sie in der Hand behalten, denn deren Steuern seien das Rückgrat ihrer Macht, da im Kriege das meiste auf Klug­ heit und Geld ankomme. Übrigens brauchten sie sich keine Sorgen zu machen; denn abgesehen von sonstigen Einkünften nähme die Stadt allein aus Steuern der Bundesgenossen alle Jahre durchschnittlich sechshundert Talente ein, und außerdem befänden sich im Schatze auf der Burg sechstausend Talente geprägtes Silber. - Der höchste Betrag war neuntausendsieben­ hundert Talente gewesen, davon aber waren Auslagen für die Propyläen und andere Bauten betsritten. - Dazu kämen an ungeprägtem Gold und Silber, an öffentlichen und Privat­ weihgeschenken und an dem, was an heiligen Geräten für fest­ liche Aufzüge und Spiele, an Perserbeute und dergleichen vor­ handen sei, mindestens fünfhundert Talente. Nötigenfalls könne man auch noch auf recht ansehnliche Schätze in den übrigen Tempeln und, wenn alle Stricke reißen sollten, auf das goldene Gewand der Göttin greifen, an deren Standbilde, wie er ihnen nachwies, sich vierzig Talente reines Gold befänden, das alles abgenommen werden könne, später freilich, wenn man sich dessen in der Not bediene, voll ersetzt werden müsse. Auf diese Weise suchte er sie über die Zulänglichkeit ihrer Geldmittel zu be- ruhigen. Ihre Streitkräfte anlangend, rechnete er ihnen vor, sie hätten dreizehntausend Mann schweres Fußvolk ohne die Besatzungen in den festen Plätzen und die sechzehntausend zur Bewachung der Mauern. So viel aus den ältesten und jüngsten Jahrgängen und den Schutzverwandten entnommene Hopliten waren nämlich gleich anfangs für den Fall eines feindlichen Angriffs zum Dienst auf den Mauern bestimmt. Die Länge der phalerischen Mauer bis an die Ringmauer der Stadt betrug fünfunddreißig Stadien und die der Ringmauer selbst, soweit sie besetzt wurde, dreiundvierzig Stadien; denn ein Teil, das
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Stück zwischen der langen und der phalerischen Mauer, wurde nicht besetzt. Die langen Mauern nach dem Peiraieus, von denen jedoch nur die äußere besetzt wurde, waren vierzig Stadien lang. Die Mauer um den Peiraieus mit Einschluß von Muny­ chia war im ganzen sechzig Stadien lang, und etwa die Hälfte davon wurde besetzt. An Reiterei, gab er weiter an, hätten sie mit Einschluß der reitenden Bogenschützen zwölfhundert Mann, Bogenschützen zu Fuß sechzehnhundert, an Kriegsschiffen aber dreihundert seetüchtige Trieren. So viel und von allem mindestens so viel hatten die Athener damals in der Tat, als der erste Einfall der Peloponnesier bevorstand und sie in den Krieg gingen. Aber auch sonst sagte ihnen Perikles, wie bei jeder Gelegenheit, auch diesmal noch alles mögliche, um ihnen zu beweisen, daß sie den Krieg siegreich bestehen würden.

Die Athener aber befolgten seinen Rat und schafften Weiber und Kinder, sowie alles, was sie an Hausgerät draußen hatten, ja selbst das Holzwerk der Häuser, die sie abbrachen, vom Lande in die Stadt. Schafe und Zugtiere brachten sie nach Euboia und den benachbarten Inseln hinüber. Es kam sie freilich hart an, so mit Sack und Pack abzuziehen, da sie meist gewohnt waren, immer auf dem Lande zu leben.