History of the Peloponnesian War

Thucydides

Thucydides. Geschichte des Peloponnesischen Kriegs. Braun, Theodor, translator. Leipzig: Insel-Verlag, 1917.

Während Hippokrates seine Leute also anfeuerte, dabei aber erst bis an die Mitte seines Heeres gelangt war, kamen die Böotier, welche Pagondas hier nochmals kurz angesprochen hatte, unter Schlachtgesang von der Höhe herab. Nun gingen auch die Athener vor, und beide trafen im Lauftritt auf­ einander. Die äußersten Flügel beider Heere konnten jedoch in das Gefecht nicht eingreifen; aber dabei waren beide in gleicher Verdammnis, denn hüben und drüben bildeten tiefe Runsen ein unüberwindliches Hindernis. Auf der übrigen Linie aber entspann sich ein heißer Kampf, und die Schilde prallten aneinander. Auf dem linken Flügel und bis zur Mitte wurden die Böotier von den Athenern besiegt, die hier namentlich den Thespiern hart zusetzten; denn da deren Nebenleute nicht standhielten, wurden sie rings umfaßt und im Handgemenge gutenteils von ihnen niedergemacht. Aber auch von den Athenern, die sich in der bei der Umfassung ent­ standenen Verwirrung nicht erkannten, fielen manche unter den Streichen ihrer eigenen Landsleute. Hier also wurden die Böotier geschlagen und auf ihren noch fechtenden rechten Flügel zurückgedrängt. Dieser aber, wo die Thebaner tsanden, war den Athenern gegenüber im Vorteil und trieb sie, wenn auch anfangs nur langsam, vor sich her. Nun aber schickte Pagondas nach der Niederlage seines linken Flügels zwei Abteilungen seiner Reiter aus dem Versteck um die Höhe herum, bei deren plötzlichem Auftauchen auf dem siegreichen Flügel der Athener eine Panik entstand, weil man glaubte, es sei ein zweites Heer im Anzüge. So gerieten die Athener, hier infolge dieses blinden Lärms, dort infolge des stürmischen Vordringens der Thebaner, auf ihrer ganzen Linie in die Flucht. Zum Teil flohen sie nach Delion und an die See, zum Teil nach Oropos, wieder andere suchten Zuflucht im Parnesgebirge oder wo sie sonst

307
Sicherheit zu finden hofften. Die Böotier aber, namentlich ihre und die lokrischen Reiter, welche grade in dem Augenblick eintrafen, wo die Flucht einsetzte, hieben auf der Verfolgung alles nieder, was ihnen vor die Klinge kam. Die Nacht machte jedoch der Verfolgung ein Ende und erleichterte es der Masse der Flüchtigen, mit dem Leben davonzukommen. Am folgenden Tage wurden dann die nach Oropos und Delion Entkommenen von hier, wo man eine Besatzung zurückließ und sich auch weiter behauptete, zu Schiff nach Hause befördert.

Die Böotier aber errichteten ein Siegeszeichen. Nachdem sie ihre Toten geborgen und den gefallenen Feinden die Waffen abgenommen, auch eine Nachhut auf dem Schlachtfelde zurück- gelassen hatten, zogen sie nach Tanagra ab, in der Absicht, sich nunmehr gegen Delion zu wenden. Einem Herolde, den man aus Athen der Toten wegen abgesandt hatte, begegnete unter­ Wegs ein böotischer Herold, der ihn aufforderte, nur wieder Umzukehren; denn bevor er selbst zurück sei, würde er doch nichts ausrichten. Den Athenern aber erklärte er dann, als er bei ihnen vorgelassen wurde, im Namen der Böotier, sie hätten sich gegen Recht und Sitte der Griechen schwer ver­ gangen, da es bei ihnen ein allgemein anerkannter Grundsatz sei, daß man sich bei einem Einfall in ein anderes griechisches Land an den dort vorhandenen Heiligtümern nicht vergreifen dürfe. Sie aber hätten Delion befestigt, sich dort häuslich eingerichtet und trieben ihr Wesen dort wie an einem un­ geweihten Orte. Auch daS Wasser, welches sie selbst nur an­ gerührt, um eS als Weihwasser zu gebrauchen, würde jetzt wie gewöhnliches Wasser geschöpft und verbraucht. Um ihrer selbst und des Gottes wegen, bei den gemeinsamen Göttern und bei Apollon, forderten die Böotier sie deshalb auf, aus dem Heilig­ tum abzuziehen und, was ihnen gehöre, mitzunehmen.

Nach dieser Erklärung des HeroldS schickten auch die Athener einen Herold an die Böotier und ließen ihnen sagen, sie hätten sich an dem Heiligtum nicht vergriffen und würden daS auch künftig ohne Not nicht tun; seien sie doch auch von vornherein keineswegs in solcher Absicht gekommen, sondern

308
nur um sich von dort gegen ihre widerrechtlichen Angriffe zu verteidigen. Nach griechischem Recht gehörten dem, der ein Gebiet erobert, sei es groß oder klein, auch die darin befind­ lichen Heiligtümer, und er habe sie, soweit es ihm eben möglich sei, in herkömmlicher Weise zu pflegen. Besäßen doch auch die Böotier und viele andere in den eroberten Ländern, aus denen sie die früheren Herren verdrängt, die ursprünglich fremden Heiligtümer jetzt zu eigen. Auch sie würden, wenn sie in ihrem Lande noch weitere Eroberungen machen könnten, diese behalten und seien auch jetzt nicht gewillt, das Stück, welches sie bereits besäßen und als ihr Eigentum ansähen, zu räumen. Das Wasser hätten sie nur in der Not angerührt, in die sie nicht durch eigenen Übermut geraten seien; vielmehr hätten sie sich nur im Kampfe gegen die Böotier, die ihnen zuerst ins Land gefallen, gezwungen gesehen, es zu gebrauchen. Alle Ungebühr aber, zu der man sich im Kriege oder in der . Not gezwungen sähe, sei selbstvertsändlich auch in den Augen der Gottheit verzeihlich, wie man ja auch bei unfreiwilligen Verfehlungen an den Altären Zuflucht finde. Not kenne kein Gebot, und eine im Notstande begangene Handlung Zsei kein Verbrechen. Und wenn die Böotier ihnen die Toten nur gegen Räumung des Tempels herausgeben wollten, so sei das ein größerer Frevel als ihre Weigerung, die den Toten gebührende Ehre durch Herausgabe des Tempels zu erkaufen. Sie ver­ langten also die bestimmte Zusage, daß ihnen die Abholung der Toten unter Waffenstillstand in herkömmlicher Weise, nicht aber unter der Bedingung vorheriger Räumung böotischen Gebiets gestattet sein solle; überdies seien sie gar nicht mehr auf böotischem, sondern einem nach Kriegsrecht ihnen gehören­ den Gebiete.

Die Böotier antworteten, wenn sie in Böotien wären und aus ihrem Lande abzögen, so könnten sie mitnehmen, waS sie wollten; wären sie aber im eigenen Lande, so müßten sie selbst wissen, was sie zu tun hätten, um damit anzudeuten, wenn das Grenzgebiet von Oropos, wo die Schlacht statt­ gefunden und die Toten lagen, wirklich den.Athenexn gehörte,

309
so würden diese wider ihren Willen die Toten doch nicht mit­ nehmen, sie aber über fremdes Land keine Verträge schließen können. Die Antwort: „Wenn sie aus ihrem Lande abzögen, so könnten sie mitnehmen, was sie wollten", hielten sie für besonders geschickt. Nach dieser Antwort mußte der athenische Herold unverrichteter Sache wieder abziehen.i

Die Böotier aber ließen sich gleich vom melischen Meer­ busen noch Wurfschützen und Schleuderer kommen, und da sie nach der Schlacht durch zweitausend korinthische Hopliten und die aus Nisaia abgezogene peloponnesische Besatzung und die zu ihr gestoßenen Megarer verstärkt worden waren, rückten sie vor Delion und griffen die Festungswerke an. Dabei bedienten sie sich unter anderem auch einer von ihnen ausgedachten Vorrichtung, vermittelst deren es ihnen dann auch gelang, sie zu nehmen. Sie sägten nämlich einen mächtigen Balken der Länge nach in zwei Teile und fügten ihn, nachdem sie ihn ausgehöhlt, genau wieder zusammen, so daß er eine Röhre bildete. An einem Ende hingen sie an Ketten ein Becken auf, in daS sie aus dem Balken ein am unteren Ende eisernes Blasrohr leiteten, wie denn auch der Balken selbst noch ein gutes Stück mit Eisen beschlagen war. Diese Vorrichtung brachten sie von weitem auf Wagen an die Mauer heran da, wo sie hauptsächlich aus Holz und Reben hergestellt war, und wenn sie damit dicht dran waren, bliesen sie mittelst großer, auf ihrem Ende des Balkens angebrachter Blasebälge Luft hinein. Dann fuhr der Luftstrom durch die Röhre in das mit Pech und Schwefel und glühende Kohlen gefüllte Becken, ent­ fachte dort eine mächtige Flamme und setzte die Mauer in Brand, so daß es niemand dort aushalten konnte, sondern alles davonlief, und das Werk auf diese Weise genommen wurde. Ein Teil der Besatzung kam ums Leben, zweihundert wurden gefangengenommen; die Mehrzahl schiffte sich ein und kam glücklich nach Hause.

Als Delion siebzehn Tage nach der Schlacht genommen war und der Herold der Athener, der noch nichts davon wußte, bald nachher der Toten wegen wiederkam, beschieden

310
ihn die Böotier nicht wie daS erstemal, sondern gaben die Toten heraus. Auf seiten der Böotier waren in der Schlacht nicht ganz fünfhundert gefallen, Athener nahezu tausend, darunter Hippokrates, ihr Feldherr, dazu eine große Zahl Leichtbewaff­ neter und Troßknechte.

Kurz nach dieser Schlacht fuhr Demosthenes, dem sein Plan, Siphai durch Verrat zu nehmen, damals mit der Flotte nicht gelungen war, mit Akarnaniern, Agraiern und vierhundert athenischen Hopliten an Bord nach Sikyon und versuchte im dortigen Gebiete eine Landung. Noch bevor alle Schiffe an­ gekommen waren, erschienen jedoch die Sikyoner auf dem Plan, schlugen die bereits Gelandeten in die Flucht und ver­ folgten sie an die Schiffe, wobei sie eine Anzahl töteten, andere gefangennahmen. Darauf errichteten sie ein Sieges­ zeichen und gaben die Toten unter Waffenstillstand heraus. In den Tagen der Kämpfe bei Delion erlitt auch der Odrysen- könig Sitalkes auf einem Zuge gegen die Triballer eine Niederlage und kam dabei ums Leben. Sein Neffe Seuthes, Sparadokos' Sohn, folgte ihm als König der Odrysen und seines thrakischen Reichs.

In demselben Winter zog Brasidas mit den vorder­ thrakischen Bundesgenossen gegen die athenische Kolonie Amphipolis am Strymon. Da, wo jetzt die Stadt steht, hatte schon Aristagoras von Milet nach seiner Flucht vor König Dareios eine Kolonie zu gründen versucht, wurde aber von den-Edonern vertrieben. Danach, zweiunddreißig Jahr später, hatten auch die Athener zehntausend Ansiedler, Bürger und andere, die sich anschließen wollten, dorthin geschickt, die jedoch bei Drabeskos von den Thrakern aufgerieben wurden. Und nach weiteren neunundzwanzig Jahren sandten die Athener dann unter Hagnon, Nikias' Sohn, abermals Kolonisten hin, welche die Edoner vertrieben und an dem Orte, der früher Neunwege hieß, die jetzige Stadt gründeten. Dabei kamen sie von Eion, dem athenischen Stapelplatze an der Mündung des Flusses, fünfundzwanzig Stadien unterhalb der jetzigen Stadt. Haynon aber gab ihr den Namen Amphipolis, weit

311
der Strymon sie in einem Bogen auf zwei Seiten umfloß und er selbst, um sie ringsherum einzuschließen, von Fluß zu Fluß eine lange Mauer gezogen hatte, so daß sie zu einem von der Land- und Seeseite weithin sichtbaren Platze ge­ worden war.

Gegen diese Stadt zog Brasidas, der von Arnai in Chalkidike aufgebrochen war, also jetzt mit seinem Heere. Gegen Abend erreichte er Aulon und Bromiskos, wo der See Bolbe in die See mündet. Hier ließ er abkochen und setzte dann in der Nacht seinen Marsch fort. Es war stürmisches Wetter und schneite ein wenig. Um so mehr beeilte er sich, weil in Amphipolis außer den Verrätern, die ihm die Stadt übergeben wollten, niemand was von ihm merken sollte. In der Stadt gab es nämlich eine Anzahl Leute aus Argilos, einer Kolonie von Andros, und einige andere, die mit ihm durch- steckten und dazu teils von Perdikkas, teils von den Chalkidiern beredet waren. Besonders aber hatten die den Athenern von jeher verdächtigen Bewohner von Argilos dort in der Nähe, die es immer auf Amphipolis abgesehen hatten, als sich die Gelegenheit bot und Brasidas kam, schon länger mit ihren in Amphipolis ansässigen Landsleuten darüber unterhandelt, wie man ihm die Stadt in die Hände spielen könne. Auch nahmen sie ihn jetzt in ihre Stadt auf, fielen von den Athenern ab und brachten sein Heer in jener Nacht noch vor Tagesanbruch bis an die über den Fluß führende Brücke. Die Stadt selbst ist noch eine Strecke weit von der Brücke entfernt, und die Mauern waren damals noch nicht so weit herabgeführt wie jetzt, sondern es befand sich dort nur ein schwacher Posten. Nachdem Brasidas, dem auch hier Verrat und außerdem das herrschende Unwetter zustatten kam, diesen durch einen uner­ warteten Angriff überwältigt hatte, überschritt er die Brücke, womit alles, was die Einwohner von Amphipolis in der ganzen Gegend außerhalb der Stadt besaßen, ohne weiteres in seine Hände fiel.

Da sein Übergang über den Fluß den Städtern völlig unerwartet kam, draußen aber viele der Ihrigen dem Feinde

312
in die Hände gefallen, andere von dort in die Stadt geflüchtet waren, so entstand in Amphipolis die größte Bestürzung, zu­ mal man sich dort untereinander nicht traute, und, wie es heißt, hätte Brasidas die Stadt wahrscheinlich nehmen können, wenn er sie, statt seine Leute plündern zu lassen, gleich angegriffen hätte. Statt dessen ließ er sein Heer ein Lager beziehen und die Umgegend abstreifen, und da seine Anhänger in der Stadt sich wider Erwarten nicht rührten, unternahm auch er vorerts nichts weiter. Die den Verrätern an Zahl überlegene Gegen­ partei aber verhinderte das sofortige Äffnen der Tore und schickte im Einvernehmen mit Eukles, dem zum Schutze des Platzes anwesenden athenischen Feldherrn, zu Thukydides, Oloros' Sohn, dem Verfasser dieser Geschichte, dem anderen Feldherrn an der thrakischen Küste, der sich damals bei der Insel Thasos befand, und ließ ihn bitten, der Stadt zu Hilfe zu kommen. Thasos ist eine Kolonie von Paros und Amphi­ polis von dort zu Schiff ungefähr in einem halben Tage zu erreichen. Der ging auch darauf sofort mit sieben grade zur Stelle beifndlichen Schiffen unter Segel, um womöglich, ehe es zur Übergabe käme, Amphipolis noch zu erreichen oder doch wenigstens Eion vorher noch zu besetzen.

Brasidas aber, welcher fürchtete, die Schiffe von Thasos könnten kommen, und überdies erfahren hatte, daß Thukydides an den thrakischen Goldbergwerken in jener Gegend beteiligt und infolgedessen dortzulande ein vielvermögender Mann sei, suchte sich indessen vorher womöglich in den Besitz von Amphi­ polis zu setzen, damit die Einwohner nicht nach seiner Ankunft in der Hoffnung auf den Beistand seiner Flotte und der von ihm in Thrakien aufgebotenen Streitkräfte die Übergabe der Stadt von der Hand wiesen. Er hielt es deshalb für geraten, ihnen die Sache durch glimpfliche Bedingungen schmackhaft zu machen, und ließ ihnen durch einen Herold ankündigen, daß es sowohl den Einheimischen wie den Athenern freistehen solle, unter voller Rechtsgleichheit im ungestörten Besitz ihreS Eigen­ tums in der Stadt zu bleiben oder binnen fünf Tagen von dort abzuziehen und ihre Habseligkeiten mitzunehmen.

313

Infolge, dieser Ankündigung schlug die Stimmung der Menge um, zumal die Einwohnerschaft nur zum kleinsten Teil aus Athenern und in der Hauptsache aus einem bunten Völker­ gemisch bestand. Zudem wohnten in der Stadt zahlreiche An­ gehörige der draußen in Gefangenschaft Geratenen. Auch hielt man das Angebot im Vergleich mit dem, was man befürchtet hatte, immer noch für billig genug; die Athener waren froh, fortzukommen, überzeugt, daß sie dabei immer noch am besten fahren und auf Hilfe von auswärts so bald nicht würden rechnen können, die anderen, daß sie wie bisher im Besitz ihrer Rechte bleiben sollten und sich unverhofft aller Gefahr über­ hoben sahen. So traten denn die Anhänger des Brasidas, als sie merkten, daß die Menge anderes Sinnes geworden war und aus den athenischen Feldherrn in der Stadt nicht mehr hören wollten, nunmehr ganz offen für die Sache ein. Der Vertrag wurde dann auch abgeschlossen und Brasidas auf seine Bedingungen eingelassen. Auf diese Weise wurde ihm die Stadt überliefert. Thukydides aber kam noch an demselben Abend mit seinen Schiffen in Eion an. Brasidas hatte Amphi­ polis schon im Besitz, und nur eine Nacht noch, so hätte er auch Eion genommen; denn wären die Schiffe nicht so schnell zur Stelle gewesen, so hätte er es bei Tagesanbruch in Händen gehabt.

Thukydides ordnete in Eion das Nötige an, um den Platz sowohl gegen einen augenblicklichen Angriff des Brasidas, als auch für später zu sichern, und nahm dort alle auf, die sich auf Grund des Vertrags aus der oberen Stadt dahin be­ geben wollten. Da kam Brasidas plötzlich mit vielen Fahr­ zeugen den Fluß herab nach Eion, um sich womöglich der von der Mauer vorspringenden Landspitze zu bemächtigen und da­ durch die Einfahrt zu beherrschen. Indessen wurde er damit und ebenso mit einem gleichzeitig zu Lande unternommenen Ver­ suche abgewiesen. Seitdem richtete er sich bei Amphipolis ein. Auch Myrkinos, eine Stadt der Edoner, ging zu ihm über, nachdem Pittakos, der König der Edoner, von den Söhnen des Goaxis und seiner Gemahlin Breuro ermordet worden

314
war, ebenso GalepsoS und bald nachher auch Oisyme, beides Kolonien von Thasos. Übrigens war auch Perdikkas, der sich gleich nach der Einnahme von Amphipolis dort eingestellt hatte, ihm dabei behilflich gewesen.

Der Fall von Amphipolis setzte die Athener sehr in Schrecken, schon weil ihnen die Stadt für die Zufuhr von Schiffsbauholz und der Steuern wegen von Wert war. Hatte den Lakedämoniern auch bisher im Gebiet der Thessaler der Weg zu ihren Bundesgenossen bis zum Strymon offen ge­ standen, so konnten sie doch, solange sie nicht im Besitz der Brücke waren, nickt weiter vorbringen; denn landeinwärts bildete der Fluß auf eine weite Strecke einen großen See, und auf der Seite nach Eion paßten ihnen die Kriegsschiffe auf; jetzt aber würde ihnen daS ein leichtes sein. Auch fürchteten sie, die Bundesgenossen würden von ihnen abfallen; denn Brasidas trat in jeder Beziehung mit großer Mäßigung auf und erklärte bei jeder Gelegenheit, daß er nur ausgesandt sei, um Griechenland zu befreien. Und in der Tat wurden die den Athenern untertänigen Städte, als sie von der Einnahme von Amphipolis, den milden Bedingungen und seinem Wohl­ wollen hörten, von einem wahren Freiheitstaumel ergriffen, ließen ihn heimlich auffordern, zu ihnen zu kommen, und jede wollte die erste sein, die sich von Athen lossagte. Sie hielten das nämlich jetzt nicht weiter für gefährlich, wobei sie sich freilich, wie sich später zeigen sollte, über die Macht der Athener gewaltig täuschten. Aber so sind die Menschen, statt sich dir Sache reiflich zu überlegen, lassen sie sich in der Regel von unklaren Wünschen leiten, immer geneigt, bei dem, wonach ihnen der Sinn steht, sich in blinden Hoffnungen zu wiegen, während sie von Dingen, die ihnen unerwünscht sind, nichts wissen wollen. Und da die Athener obendrein kürzlich in Böotien geschlagen waren und Brasidas ihnen zwar wahrheits­ widrig, aber doch sehr einleuchtend geschildert hatte, wie die Athener es bei seinem Zuge nach Nisaia mit ihm allein nicht aufzunehmen gewagt hätten, fühlten sie sich vollends sicher und glaubten, niemand könne ihnen waS anhaben. Hauptsächlich

315
aber, weil ihnen die Sache in dem Augenblick angenehm war und sie erst mal sehen wollten, was denn die Lakedämonier könnten, scheuten sie sich nicht, leichtsinnig mit dem Feuer zu spielen. Als die Athener davon hörten, sandten sie, soweit es in der Eile und zur Winterszeit anging, Besatzungen in die Städte; Brasidas aber schickte ebenfalls nach Lakedämon und bat dringend um Verstärkungen, begann jedoch auch selbst am Strymon mit dem Bau von Kriegsschiffen. Die Lakedämonier aber taten ihm den Gefallen nicht, teils weil die ersten Männer neidisch auf ihn waren, teils weil ihnen mehr daran tag, die Gefangenen von der Insel wiederzubekommen und dem Kriege ein Ende zu machen.

In demselben Winter eroberten die Megarer ihre langen Mauern wieder und zerstörten sie bis auf den Grund, Brasidas aber zog nach der Einnahme von Amphipolis mit den Bundes­ genossen nach der Halbinsel Akte. Diese erstreckt sich vom Durchstich des Königs in südlicher Richtung und endet mit dem ins Ägäische Meer vorspringenden Athosgebirge. An Städten gibt eS dort Sane, eine Kolonie von Andros, un­ mittelbar am Durchstich auf der Euboia gegenüberliegenden Küste; außerdem noch Thyssos, Kleonai, Akrothooi, Olophyros und Dion, in denen ein barbarisches, zweisprachiges Mischvolk wohnt, das zum Teil auch aus Chalkidiern, in der Hauptsache aber aus Pelasgern, und zwar jenen vormals auf Lemnos und in Athen heimischen Thprsenen, und aus Bisaltern, Krestonern und Edonern besteht. Die von ihnen bewohnten Städte sind aber alle nur klein. Die meisten gingen zu Brasidas über, Widerstand leisteten nur Sane und Dion, weshalb er mit seinem Heere dort stehen blieb und ihr Gebiet verheerte.

Da sie sich aber nicht ergeben wollten, zog er flugs vor das chalkidische Torone, daS von den Athenern besetzt war. Ein paar Einwohner hatten ihn dazu eingeladen und sich er­ boten, ihm die Stadt in die Hände zu spielen. Er traf noch bei Nacht kurz vor Tagesanbruch ein und ließ sein Heer bei dem etwa drei Stadien von der Stadt entfernten Dioskuren­ tempel haltmachen, ohne daß die übrige Einwohnerschaft oder

316
die athenische Besatzung etwas davon merkte. Von den Ver­ rätern aber, welche wußten, daß er kommen würde, waren einige hinausgezogen, um ihn zu erwarten, und als sie sahen, daß er da war, nahmen sie sieben seiner Leute, die nur mit Dolchen bewaffnet waren, mit in die Stadt. Ursprünglich sollten es zwanzig sein, aber nur die sieben hatten sich nicht gefürchtet, mit hineinzugehen. Ihr Anführer war Lysistratos aus Olynth. Durch eine Mauerlücke an der Seeseite gelangten sie hinein und hinauf bis an den höchsten Punkt der an einem Hügel gelegenen Stadt, ohne von der hier Wache haltenden Mannschaft bemerkt zu werden, stachen diese nieder und sprengten die kanastraiische Mauerpforte.

Brasidas, der inzwischen etwas nähergerückt war, hatte, während er mit dem übrigen Heere stehen blieb, hundert Pel­ tasten vorausgeschickt, welche, sobald ein Tor geöffnet und das verabredete Zeichen gegeben wäre, zuerst eindringen sollten. Diese waren, während zu ihrer Verwunderung darüber längere Zeit verging, nach und nach bis dicht an die Stadt gelangt. Unterdessen hatten auch jene Toroner und die mit ihnen Ein­ gedrungenen drinnen das Ihrige getan, die Pforte gesprengt und das Stadttor am Markte, dessen Querbalken sie zer­ schlugen, geöffnet. Zuerst führten sie einige um die Stadt herum durch die Pforte herein, damit die nichts ahnenden Einwohner durch das plötzliche Erscheinen des Feindes im Rücken und auf beiden Seiten in Schrecken versetzt würden. Darauf gaben sie das verabredete Feuerzeichen und ließen dann auch die übrigen Peltasten durch das Tor am Markte in die Stadt.

Sobald Brasidas das Zeichen sah, brach er mit dem ganzen Heere auf und ließ es im Lauftritt mit Geschrei gegen die Stadt vorgehen, die dadurch in die äußerste Bestürzung geriet. Seine Leute drangen zum Teil gradeswegs durch das Tor ein, zum Teil über viereckige Balken, welche an der Stadtmauer tagen und beim Ausbau der verfallenen Mauer zum Hinaufbringen von Steinen benutzt werden sollten. Er selbst wandte sich mit der Mehrzahl gleich gegen die oberen

317
Teile der Stadt, um sie von dort völlig in seiner Gewalt zu haben, während die übrige Masse sich nach allen Richtungen durch die Stadt verbreitete.

Infolge dieser Überrumpelung geriet die Mehrzahl der Einwohner, welche um die Sache nicht wußte, gänzlich außer Fassung. Die Eingeweihten aber und alle, denen sie nach Sinne war, schlugen sich gleich auf die Seite der eingedrungenen Feinde. Von den durch den Lärm geweckten Athenern, - denn etwa fünfzig Hopliten hatten auf dem Markte im Schlafe ge­ legen, - fielen einige im Handgemenge; die übrigen retteten sich, teils zu Lande, teils auf zwei dort Wache haltende Schiffe und fanden Zuflucht in dem Kastell Lekythos, welches, an einer vorspringenden Spitze der Stadt belegen, nur durch eine schmale Landenge mit ihr zusammenhängt und allein von Athenern besetzt war. Ebendahin flüchteten sich auch die Toroner, die es mit den Athenern hielten.

Als es Tag geworden war und Brasidas die Stadt bereits vollständig in seiner Gewalt hatte, ließ er den mit den Athenern geflüchteten Toronern durch einen Herold sagen, wenn sie wollten, könnten sie alle wieder nach Hause kommen und unangefochten in der Stadt bleiben; zu den Athenern aber schickte er einen Herold mit der Aufforderung, aus Lekythos, das den Chalkidiern gehöre, unter Waffenstillstand mit Sack und Pack abzuziehen. Die erklärten indessen, sie würden bleiben, baten ihn jedoch, ihnen für einen Tag Waffenstillstand zu be­ willigen, um ihre Toten abholen zu können. Er aber be­ willigte ihnen zwei, die er dann dazu benutzte, um die Häuser in der Nähe zu befestigen, wie das die Athener auf ihrer Seite auch taten. Darauf berief er eine Versammlung der Toroner und hielt ihnen eine Rede, ähnlich wie in Akanthos: Sie dürften die Männer, die ihm zur Einnahme der Stadt die Hand geboten, nicht für Schurken oder Verräter halten; denn sie hätten das nicht getan, weil sie bestochen gewesen oder um die Stadt in Knechtschaft zu bringen, sondern in der löblichen Absicht, ihr zur Freiheit zu verhelfen; auch möchten sie nicht glauben, daß die anderen, die das nicht mitgemacht, deshalb

318
schlechter behandelt werden würden; denn er sei nicht ge­ kommen, um der Stadt oder deren Einwohnern was zuleide zu tun. Deswegen habe er auch das Anerbieten an die zu den Athenern Geflüchteten gerichtet, weil er sie trotz ihrer Vorliebe für die Athener darum doch nicht für schlechtere Bürger halte. Auch sei er überzeugt, wenn sie die Lakedämonier erst kennen lernten, würden sie diese nicht minder, ja schon weil sie ehr­ licher zu Werkes gingen, erst recht lieb gewinnen, und nur weil sie sie noch nicht gekannt, hätten sie sich bisher vor ihnen gefürchtet. Allen aber mache er es zur Pflicht, sich von nun an als treue Bundesgenossen zu bewähren, dumme Streiche würden ihnen in Zukunft nicht geschenkt werden. Bis jetzt hätten sie selbst unter fremder Übermacht gelitten und sich gegen die Lakedämonier nichts zuschulden kommen lassen, und wäre das auch wirklich mal der Fall gewesen, so solle ihnen das nicht aufs Kerbholz kommen.

Nachdem er sie mit solchen Worten beruhigt hatte und der Waffenstillstand abgelaufen war, schritt er zum Angriff auf Lekythos; die Athener aber verteidigten sich dagegen aus ihren elenden Werken und den mit Schutzwehren versehenen Häusern, schlugen auch am ersten Tage alle Angriffe ab. Am folgenden Tage aber, als der Feind eine Maschine gegen sie vorführen und daraus in das Holzwerk der Umwallung Feuer werfen wollte und mit seinem Heere bereits zum Angriff vor­ ging, errichteten sie an der schwächsten Stelle, wo man die Maschine ihrer Meinung nach ansetzen würde, auf einem Unterbau einen hölzernen Turm und brachten viele Eimer und Fässer mit Wasser sowie eine Anzahl Leute hinauf. Der Bau war jedoch zu schwer belastet und brach plötzlich mit gewaltigem Krach zusammen. Die Athener in der Nähe, die das mit an­ sahen, erfüllte es mehr mit Bedauern als mit Schrecken; die aber, welche weiter, zumal sehr weit davon entfernt waren, glaubten nicht anders, als daß der Platz schon genommen sei, und flohen eiligst nach der See und den Schiffen.