History of the Peloponnesian War

Thucydides

Thucydides. Geschichte des Peloponnesischen Kriegs. Braun, Theodor, translator. Leipzig: Insel-Verlag, 1917.

In diesen Tagen aber sammelten sich die Böotier bei Tanagra. Nachdem sich die Mannschaften aus allen Städten eingefunden hatten, hörten sie, daß die Athener schon wieder abzögen. Nun waren die Böotarchen, deren es im ganzen elf gibt, fast alle gegen eine Schlacht; denn als die Athener haltmachten, waren sie beinah schon auf der Grenze bei

303
Oropos. Nur Pagondas, Aioladas' Sohn, der mit Arianthidas, Lysimachidas' Sohn, Böotarch aus Theben war, wollte gern schlagen, solange er den Oberbefehl hatte, wie er es auch wirklich für besser hielt, eine Schlacht zu liefern. Er ließ also die Mannschaften, damit sie nicht alle zugleich ihre Stellungen verließen, abteilungsweise einzeln vortreten und setzte ihnen aus­ einander, man müßte den Athenern jetzt zu Leibe gehen und den Kampf mit ihnen ausnehmen, indem er sie also anredete:

„Hätte es doch keinem unserer Feldherren in den Sinn kommen sollen, Böotier, daß wir uns mit den Athenern nicht zu schlagen brauchten, wenn wir sie nicht mehr in Böotien träfen. Sind sie uns doch über die Grenze ins Land gekommen, haben hier eine Festung gebaut und wollen Böotien zur Wüste machen. Folglich sind sie unsere Feinde, kommen sie als solche, woher sie wollen, wo immer wir sie antreffen. Und wer es früher auch für richtiger gehalten, sie ziehen zu lassen, möge sich jetzt eines besseren besinnen. Wenn man sich im eigenen Lande seiner Haut wehren muß, hat man nicht Zeit zu langer Überlegung wie der habgierige Nachbar, der sich zu Hause in aller Ruhe auf einen Raubzug vorbereitet. Seit den Tagen unserer Väter ist es bei uns immer Grundsatz gewesen, einem auswärtigen Feinde, der uns angreift, gleichviel ob im eigenen oder in fremdem Lande unbedingt zu Leibe zu gehen. Und unseren Nachbarn, den Athenern, gegenüber haben wir um so mehr Grund, darnach zu verfahren. Die Widerstandskraft den Nachbarn gegenüber ist ja doch für alle die erste Bedingung der Freiheit. Und wie sollten wir nicht im Kampfe mit ihnen, die nicht nur ihre Nachbarn, sondern auch ferne Länder zu unterjochen suchen, unsere letzte Kraft einsetzen? An Euboia hier gegenüber haben wir ja das Beispiel; wie sieht eS da aus, und was herrschen in Griechenland auch sonst fast überall für Zustände! Und wenn andere mit ihren Nachbarn um Landesgrenzen Krieg führen, so müssen wir uns klarmachen, daß, wenn wir besiegt werden, unserem Lande unwiderruflich nur eine Grenze gezogen werden wird; denn haben sie sich unseres Landes erst bemächtigt, so werden sie es ganz behalten.

304
Darum sind die Athener unsere allergefährlichsten Nachbarn. Ein Feind, der, wie jetzt die Athener, im Vertrauen auf seine Macht seinen Nachbar angreift, wird, wenn dieser sich zugibt und höchstens im eigenen Lande wehrt, nun immer anspruchs­ voller auftreten, wenn man ihm aber schon jenseits der Grenze entgegengehkund bei Gelegenheit selbst den Angreifer macht, schon eher klein beigeben. Wir haben das ja an ihnen selbst erlebt; denn seitdem wir sie damals, wo sie hier infolge unserer inneren Zwistigkeiten Herren im Lande waren, bei Koroneia besiegt, haben sie uns bis jetzt in Ruhe gelassen. Eingedenk dessen müssen wir Alten wieder so tapfer draufgehen wie da­ mals, die Jüngeren aber als Söhne ihrer mutigen Väter sich bestreben, der alten böotischen Tapferkeit keine Schande zu machen, und so wollen wir im Vertrauen auf den Beistand des Gottes, dessen Tempel sie sich so ruchlos zur Festung ge­ macht haben, und auf unsere Glück verheißenden Opfer ihnen zu Leibe gehen, um ihnen zu zeigen, daß sie sich, wenn sie Eroberungen machen wollen, Leute suchen müssen, die nicht zu fechten verstehen, sich aber bei uns, die wir zwar nicht dabei hergekommen sind, fremde Länder zu unterjochen, wohl aber die Freiheit unseres eigenen Landes mit den Waffen in der Hand zu verteidigen, nur blutige Köpfe holen."

Durch diese zündenden Worte bewirkte Pagondas, daß die Böotier sich zum Angriff auf die Athener entschlossen. Er brach auch sofort auf und setzte sich mit dem Heere in Marsch; denn es war schon spät am Tage. Nachdem er in die Nähe ihres Heeres gelangt war, machte er halt an einer Stelle, wo sie einander wegen eines dazwischen liegenden Höhenzuges nicht sehen konnten, wies den einzelnen Truppenteilen ihre Stellungen an und machte sich zur Schlacht bereit. Als Hippokrates, der sich noch bei Delion befand, gemeldet wurde, daß die Böotier im Anzüge seien, sandte er seinem Heere den Befehl, sich in Schlachtordnung zu stellen, traf dann aber bald darauf auch selbst bei ihm ein. Bei Delion ließ er un­ gefähr dreihundert Reiter zurück, sowohl um den Platz gegen einen etwaigen Angriff zu decken, als auch um den Böotieru

305
wahrend der Schlacht im rechten Augenblick in den Rücken zu fallen. Um sie in Schach zu halten, ließen die Böotier eine Anzahl Truppen ihnen gegenüber stehen, kamen dann aber, als alles fertig war, über die Höhe zum Vorschein und stellten sich, ungefähr siebentausend Hopliten, über zehntausend Leicht­ bewaffnete, tausend Reiter und fünfhundert Peltasten, den aus­ gegebenen Befehlen gemäß auch ihrerseits in Schlachtlinie. Den rechten Flügel bildeten die Thebaner und ihre Untertanen, die Mitte die Mannschaften aus Haliartos, Koroneia, Kopai und den übrigen um den See gelegenen Orten, den linken Flügel die aus Thespiai, Tanagra und Orchomenos. Die Reiterei und das leichte Fußvolk befand sich auf beiden Flügeln. Die Thebaner standen fünfundzwanzig Mann tief, die übrigen wie es sich grade traf. Dies die Stärke und die Aufstellung der Böotier.

Auf seiten der Athener stand das ganze schwere Fußvolk, woran sie den Gegnern an Zahl gewachsen waren, acht Mann tief, die Reiterei auf beiden Flügeln. Feldmäßig ausgerüstete leichte Truppen hatten sie an dem Tage nicht, waren in der Stadt überhaupt nicht vorhanden. Freilich war die Zahl derer, die den Zug mitgemacht, weit größer als die der Gegner, aber die meisten waren ohne Waffen mitgegangen, da eben die ganze Stadt, Einheimische und Fremde, sich angeschlossen hatte. Auch waren sie ja größtenteils gleich weiter nach Hause ge­ zogen und deshalb nur wenige davon hier zur Stelle. Als beide Heere in Schlachtordnung standen und der Kampf be­ reits beginnen sollte, schritt Hippokrates die Reihen der Athener ab und feuerte sie an mit folgenden Worten:

„Athener! Wenige Worte nur, die ich an euch richte, aber mehr ist auch nicht nötig für tapfere Männer; es ist auch nur zur Erinnerung, nicht zur Ermutigung. Glaubt nicht, es hätte keinen Zweck, hier im fremden Lande eine Schlacht zu wagen; denn wir kämpfen hier für unser Land. Wenn wir siegen, so haben die Peloponnesier keine böotische Reiterei mehr und werden unS nie wieder ins Land kommen, und durch diese eine Schlacht werdet ihr nicht nur dies Land erobern, sondern auch [*]( I )

306
unser Land von den Drangsalen des Krieges befreien. Also drauflos und macht der Stadt Ehre, die ihr alle mit Stolz die erste Stadt Griechenlands nennt, und zeigt euch eurer Väter wert, die unter Myronidas dies Gesindel bei Oinophyta früher schon besiegt und sich Böotien unterworfen haben."

Während Hippokrates seine Leute also anfeuerte, dabei aber erst bis an die Mitte seines Heeres gelangt war, kamen die Böotier, welche Pagondas hier nochmals kurz angesprochen hatte, unter Schlachtgesang von der Höhe herab. Nun gingen auch die Athener vor, und beide trafen im Lauftritt auf­ einander. Die äußersten Flügel beider Heere konnten jedoch in das Gefecht nicht eingreifen; aber dabei waren beide in gleicher Verdammnis, denn hüben und drüben bildeten tiefe Runsen ein unüberwindliches Hindernis. Auf der übrigen Linie aber entspann sich ein heißer Kampf, und die Schilde prallten aneinander. Auf dem linken Flügel und bis zur Mitte wurden die Böotier von den Athenern besiegt, die hier namentlich den Thespiern hart zusetzten; denn da deren Nebenleute nicht standhielten, wurden sie rings umfaßt und im Handgemenge gutenteils von ihnen niedergemacht. Aber auch von den Athenern, die sich in der bei der Umfassung ent­ standenen Verwirrung nicht erkannten, fielen manche unter den Streichen ihrer eigenen Landsleute. Hier also wurden die Böotier geschlagen und auf ihren noch fechtenden rechten Flügel zurückgedrängt. Dieser aber, wo die Thebaner tsanden, war den Athenern gegenüber im Vorteil und trieb sie, wenn auch anfangs nur langsam, vor sich her. Nun aber schickte Pagondas nach der Niederlage seines linken Flügels zwei Abteilungen seiner Reiter aus dem Versteck um die Höhe herum, bei deren plötzlichem Auftauchen auf dem siegreichen Flügel der Athener eine Panik entstand, weil man glaubte, es sei ein zweites Heer im Anzüge. So gerieten die Athener, hier infolge dieses blinden Lärms, dort infolge des stürmischen Vordringens der Thebaner, auf ihrer ganzen Linie in die Flucht. Zum Teil flohen sie nach Delion und an die See, zum Teil nach Oropos, wieder andere suchten Zuflucht im Parnesgebirge oder wo sie sonst

307
Sicherheit zu finden hofften. Die Böotier aber, namentlich ihre und die lokrischen Reiter, welche grade in dem Augenblick eintrafen, wo die Flucht einsetzte, hieben auf der Verfolgung alles nieder, was ihnen vor die Klinge kam. Die Nacht machte jedoch der Verfolgung ein Ende und erleichterte es der Masse der Flüchtigen, mit dem Leben davonzukommen. Am folgenden Tage wurden dann die nach Oropos und Delion Entkommenen von hier, wo man eine Besatzung zurückließ und sich auch weiter behauptete, zu Schiff nach Hause befördert.

Die Böotier aber errichteten ein Siegeszeichen. Nachdem sie ihre Toten geborgen und den gefallenen Feinden die Waffen abgenommen, auch eine Nachhut auf dem Schlachtfelde zurück- gelassen hatten, zogen sie nach Tanagra ab, in der Absicht, sich nunmehr gegen Delion zu wenden. Einem Herolde, den man aus Athen der Toten wegen abgesandt hatte, begegnete unter­ Wegs ein böotischer Herold, der ihn aufforderte, nur wieder Umzukehren; denn bevor er selbst zurück sei, würde er doch nichts ausrichten. Den Athenern aber erklärte er dann, als er bei ihnen vorgelassen wurde, im Namen der Böotier, sie hätten sich gegen Recht und Sitte der Griechen schwer ver­ gangen, da es bei ihnen ein allgemein anerkannter Grundsatz sei, daß man sich bei einem Einfall in ein anderes griechisches Land an den dort vorhandenen Heiligtümern nicht vergreifen dürfe. Sie aber hätten Delion befestigt, sich dort häuslich eingerichtet und trieben ihr Wesen dort wie an einem un­ geweihten Orte. Auch daS Wasser, welches sie selbst nur an­ gerührt, um eS als Weihwasser zu gebrauchen, würde jetzt wie gewöhnliches Wasser geschöpft und verbraucht. Um ihrer selbst und des Gottes wegen, bei den gemeinsamen Göttern und bei Apollon, forderten die Böotier sie deshalb auf, aus dem Heilig­ tum abzuziehen und, was ihnen gehöre, mitzunehmen.

Nach dieser Erklärung des HeroldS schickten auch die Athener einen Herold an die Böotier und ließen ihnen sagen, sie hätten sich an dem Heiligtum nicht vergriffen und würden daS auch künftig ohne Not nicht tun; seien sie doch auch von vornherein keineswegs in solcher Absicht gekommen, sondern

308
nur um sich von dort gegen ihre widerrechtlichen Angriffe zu verteidigen. Nach griechischem Recht gehörten dem, der ein Gebiet erobert, sei es groß oder klein, auch die darin befind­ lichen Heiligtümer, und er habe sie, soweit es ihm eben möglich sei, in herkömmlicher Weise zu pflegen. Besäßen doch auch die Böotier und viele andere in den eroberten Ländern, aus denen sie die früheren Herren verdrängt, die ursprünglich fremden Heiligtümer jetzt zu eigen. Auch sie würden, wenn sie in ihrem Lande noch weitere Eroberungen machen könnten, diese behalten und seien auch jetzt nicht gewillt, das Stück, welches sie bereits besäßen und als ihr Eigentum ansähen, zu räumen. Das Wasser hätten sie nur in der Not angerührt, in die sie nicht durch eigenen Übermut geraten seien; vielmehr hätten sie sich nur im Kampfe gegen die Böotier, die ihnen zuerst ins Land gefallen, gezwungen gesehen, es zu gebrauchen. Alle Ungebühr aber, zu der man sich im Kriege oder in der . Not gezwungen sähe, sei selbstvertsändlich auch in den Augen der Gottheit verzeihlich, wie man ja auch bei unfreiwilligen Verfehlungen an den Altären Zuflucht finde. Not kenne kein Gebot, und eine im Notstande begangene Handlung Zsei kein Verbrechen. Und wenn die Böotier ihnen die Toten nur gegen Räumung des Tempels herausgeben wollten, so sei das ein größerer Frevel als ihre Weigerung, die den Toten gebührende Ehre durch Herausgabe des Tempels zu erkaufen. Sie ver­ langten also die bestimmte Zusage, daß ihnen die Abholung der Toten unter Waffenstillstand in herkömmlicher Weise, nicht aber unter der Bedingung vorheriger Räumung böotischen Gebiets gestattet sein solle; überdies seien sie gar nicht mehr auf böotischem, sondern einem nach Kriegsrecht ihnen gehören­ den Gebiete.

Die Böotier antworteten, wenn sie in Böotien wären und aus ihrem Lande abzögen, so könnten sie mitnehmen, waS sie wollten; wären sie aber im eigenen Lande, so müßten sie selbst wissen, was sie zu tun hätten, um damit anzudeuten, wenn das Grenzgebiet von Oropos, wo die Schlacht statt­ gefunden und die Toten lagen, wirklich den.Athenexn gehörte,

309
so würden diese wider ihren Willen die Toten doch nicht mit­ nehmen, sie aber über fremdes Land keine Verträge schließen können. Die Antwort: „Wenn sie aus ihrem Lande abzögen, so könnten sie mitnehmen, was sie wollten", hielten sie für besonders geschickt. Nach dieser Antwort mußte der athenische Herold unverrichteter Sache wieder abziehen.i

Die Böotier aber ließen sich gleich vom melischen Meer­ busen noch Wurfschützen und Schleuderer kommen, und da sie nach der Schlacht durch zweitausend korinthische Hopliten und die aus Nisaia abgezogene peloponnesische Besatzung und die zu ihr gestoßenen Megarer verstärkt worden waren, rückten sie vor Delion und griffen die Festungswerke an. Dabei bedienten sie sich unter anderem auch einer von ihnen ausgedachten Vorrichtung, vermittelst deren es ihnen dann auch gelang, sie zu nehmen. Sie sägten nämlich einen mächtigen Balken der Länge nach in zwei Teile und fügten ihn, nachdem sie ihn ausgehöhlt, genau wieder zusammen, so daß er eine Röhre bildete. An einem Ende hingen sie an Ketten ein Becken auf, in daS sie aus dem Balken ein am unteren Ende eisernes Blasrohr leiteten, wie denn auch der Balken selbst noch ein gutes Stück mit Eisen beschlagen war. Diese Vorrichtung brachten sie von weitem auf Wagen an die Mauer heran da, wo sie hauptsächlich aus Holz und Reben hergestellt war, und wenn sie damit dicht dran waren, bliesen sie mittelst großer, auf ihrem Ende des Balkens angebrachter Blasebälge Luft hinein. Dann fuhr der Luftstrom durch die Röhre in das mit Pech und Schwefel und glühende Kohlen gefüllte Becken, ent­ fachte dort eine mächtige Flamme und setzte die Mauer in Brand, so daß es niemand dort aushalten konnte, sondern alles davonlief, und das Werk auf diese Weise genommen wurde. Ein Teil der Besatzung kam ums Leben, zweihundert wurden gefangengenommen; die Mehrzahl schiffte sich ein und kam glücklich nach Hause.

Als Delion siebzehn Tage nach der Schlacht genommen war und der Herold der Athener, der noch nichts davon wußte, bald nachher der Toten wegen wiederkam, beschieden

310
ihn die Böotier nicht wie daS erstemal, sondern gaben die Toten heraus. Auf seiten der Böotier waren in der Schlacht nicht ganz fünfhundert gefallen, Athener nahezu tausend, darunter Hippokrates, ihr Feldherr, dazu eine große Zahl Leichtbewaff­ neter und Troßknechte.

Kurz nach dieser Schlacht fuhr Demosthenes, dem sein Plan, Siphai durch Verrat zu nehmen, damals mit der Flotte nicht gelungen war, mit Akarnaniern, Agraiern und vierhundert athenischen Hopliten an Bord nach Sikyon und versuchte im dortigen Gebiete eine Landung. Noch bevor alle Schiffe an­ gekommen waren, erschienen jedoch die Sikyoner auf dem Plan, schlugen die bereits Gelandeten in die Flucht und ver­ folgten sie an die Schiffe, wobei sie eine Anzahl töteten, andere gefangennahmen. Darauf errichteten sie ein Sieges­ zeichen und gaben die Toten unter Waffenstillstand heraus. In den Tagen der Kämpfe bei Delion erlitt auch der Odrysen- könig Sitalkes auf einem Zuge gegen die Triballer eine Niederlage und kam dabei ums Leben. Sein Neffe Seuthes, Sparadokos' Sohn, folgte ihm als König der Odrysen und seines thrakischen Reichs.

In demselben Winter zog Brasidas mit den vorder­ thrakischen Bundesgenossen gegen die athenische Kolonie Amphipolis am Strymon. Da, wo jetzt die Stadt steht, hatte schon Aristagoras von Milet nach seiner Flucht vor König Dareios eine Kolonie zu gründen versucht, wurde aber von den-Edonern vertrieben. Danach, zweiunddreißig Jahr später, hatten auch die Athener zehntausend Ansiedler, Bürger und andere, die sich anschließen wollten, dorthin geschickt, die jedoch bei Drabeskos von den Thrakern aufgerieben wurden. Und nach weiteren neunundzwanzig Jahren sandten die Athener dann unter Hagnon, Nikias' Sohn, abermals Kolonisten hin, welche die Edoner vertrieben und an dem Orte, der früher Neunwege hieß, die jetzige Stadt gründeten. Dabei kamen sie von Eion, dem athenischen Stapelplatze an der Mündung des Flusses, fünfundzwanzig Stadien unterhalb der jetzigen Stadt. Haynon aber gab ihr den Namen Amphipolis, weit

311
der Strymon sie in einem Bogen auf zwei Seiten umfloß und er selbst, um sie ringsherum einzuschließen, von Fluß zu Fluß eine lange Mauer gezogen hatte, so daß sie zu einem von der Land- und Seeseite weithin sichtbaren Platze ge­ worden war.

Gegen diese Stadt zog Brasidas, der von Arnai in Chalkidike aufgebrochen war, also jetzt mit seinem Heere. Gegen Abend erreichte er Aulon und Bromiskos, wo der See Bolbe in die See mündet. Hier ließ er abkochen und setzte dann in der Nacht seinen Marsch fort. Es war stürmisches Wetter und schneite ein wenig. Um so mehr beeilte er sich, weil in Amphipolis außer den Verrätern, die ihm die Stadt übergeben wollten, niemand was von ihm merken sollte. In der Stadt gab es nämlich eine Anzahl Leute aus Argilos, einer Kolonie von Andros, und einige andere, die mit ihm durch- steckten und dazu teils von Perdikkas, teils von den Chalkidiern beredet waren. Besonders aber hatten die den Athenern von jeher verdächtigen Bewohner von Argilos dort in der Nähe, die es immer auf Amphipolis abgesehen hatten, als sich die Gelegenheit bot und Brasidas kam, schon länger mit ihren in Amphipolis ansässigen Landsleuten darüber unterhandelt, wie man ihm die Stadt in die Hände spielen könne. Auch nahmen sie ihn jetzt in ihre Stadt auf, fielen von den Athenern ab und brachten sein Heer in jener Nacht noch vor Tagesanbruch bis an die über den Fluß führende Brücke. Die Stadt selbst ist noch eine Strecke weit von der Brücke entfernt, und die Mauern waren damals noch nicht so weit herabgeführt wie jetzt, sondern es befand sich dort nur ein schwacher Posten. Nachdem Brasidas, dem auch hier Verrat und außerdem das herrschende Unwetter zustatten kam, diesen durch einen uner­ warteten Angriff überwältigt hatte, überschritt er die Brücke, womit alles, was die Einwohner von Amphipolis in der ganzen Gegend außerhalb der Stadt besaßen, ohne weiteres in seine Hände fiel.

Da sein Übergang über den Fluß den Städtern völlig unerwartet kam, draußen aber viele der Ihrigen dem Feinde

312
in die Hände gefallen, andere von dort in die Stadt geflüchtet waren, so entstand in Amphipolis die größte Bestürzung, zu­ mal man sich dort untereinander nicht traute, und, wie es heißt, hätte Brasidas die Stadt wahrscheinlich nehmen können, wenn er sie, statt seine Leute plündern zu lassen, gleich angegriffen hätte. Statt dessen ließ er sein Heer ein Lager beziehen und die Umgegend abstreifen, und da seine Anhänger in der Stadt sich wider Erwarten nicht rührten, unternahm auch er vorerts nichts weiter. Die den Verrätern an Zahl überlegene Gegen­ partei aber verhinderte das sofortige Äffnen der Tore und schickte im Einvernehmen mit Eukles, dem zum Schutze des Platzes anwesenden athenischen Feldherrn, zu Thukydides, Oloros' Sohn, dem Verfasser dieser Geschichte, dem anderen Feldherrn an der thrakischen Küste, der sich damals bei der Insel Thasos befand, und ließ ihn bitten, der Stadt zu Hilfe zu kommen. Thasos ist eine Kolonie von Paros und Amphi­ polis von dort zu Schiff ungefähr in einem halben Tage zu erreichen. Der ging auch darauf sofort mit sieben grade zur Stelle beifndlichen Schiffen unter Segel, um womöglich, ehe es zur Übergabe käme, Amphipolis noch zu erreichen oder doch wenigstens Eion vorher noch zu besetzen.

Brasidas aber, welcher fürchtete, die Schiffe von Thasos könnten kommen, und überdies erfahren hatte, daß Thukydides an den thrakischen Goldbergwerken in jener Gegend beteiligt und infolgedessen dortzulande ein vielvermögender Mann sei, suchte sich indessen vorher womöglich in den Besitz von Amphi­ polis zu setzen, damit die Einwohner nicht nach seiner Ankunft in der Hoffnung auf den Beistand seiner Flotte und der von ihm in Thrakien aufgebotenen Streitkräfte die Übergabe der Stadt von der Hand wiesen. Er hielt es deshalb für geraten, ihnen die Sache durch glimpfliche Bedingungen schmackhaft zu machen, und ließ ihnen durch einen Herold ankündigen, daß es sowohl den Einheimischen wie den Athenern freistehen solle, unter voller Rechtsgleichheit im ungestörten Besitz ihreS Eigen­ tums in der Stadt zu bleiben oder binnen fünf Tagen von dort abzuziehen und ihre Habseligkeiten mitzunehmen.

313