History of the Peloponnesian War

Thucydides

Thucydides. Geschichte des Peloponnesischen Kriegs. Braun, Theodor, translator. Leipzig: Insel-Verlag, 1917.

Hier beginnt nun der wirkliche Krieg zwischen den Athenern und den Peloponnesiern und ihren beiderseitigen Bundesgenossen, in dem sie ohne Heroldsgeleit nicht mehr mit­ einander verkehrten und sich beständig in Waffen gegenüber- standen. Was sich darin im einzelnen ereignet hat, wird hier Jahr für Jahr nach Sommer und Winter der Reihe nach erzählt.

Vierzehn Jahre hatte der nach der Eroberung von Euboia geschlossene dreißigjährige Friede vorgehalten. Im fünfzehnten Jahre aber, als Drysis ahctundvierzig Jahre Priesterin in Argos, Ainesios Ephor in Sparta und das Amtsjahr des Archon ^Pythodoros in Athen bis auf vier Monate abgelaufen war, im sechsten Monat nach der Schlacht bei Potidäa, zu Anfang des Frühlings überfiel eine Anzahl bewaffneter Thebaner, etwas über dreihundert Mann, unter den Böotarchen Pythangelos, Phyleides' Sohn, und Diemporos, Onetorides' Sohn, das mit Athen verbündete böotische Platää und drang, als die Einwohner eben im ersten Schlafe lagen, in die Stadt. Bürger von Platää, Naukleides und seine Anhänger, waren es, die sie gerufen und ihnen das Stadttor geöffnet hatten, weil sie, um selbst ans Ruder zu kommen, ihre Gegner in der Bürger­ schaft stürzen und die Stadt den Thebanern in die Hände spielen wollten. Eurymachos, Leontiades' Sohn, ein besonders einflußreicher Mann in Theben, hatte dabei den Mittelsmann gemacht. Denn da die Thebaner den Krieg kommen sahen, wollten sie Platää, ihre alte Feindin, lieber im Frieden, bevor es förmlich zum Kriege käme, noch schnell in ihre Gewalt bringen. So konnten sie auch um so leichter unbemerkt in die Stadt gelangen, da keine Wachen ausgestellt waren. Als sie hier auf dem Markte haltmachten, forderten ihre Freunde, die sie gerufen hatten, sie dazu auf, gleich in die Häuser der Gegner zu dringen und kurzen Prozeß mit ihnen zu machen. Darauf gingen sie jedoch nicht ein, beschlossen vielmehr, eine versöhnliche Kundgebung zu erlassen, um die Bürgerschaft zu einem gütlichen Vergleich zu bewegen, und ließen auch öffentlich

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ausrufen, alle guten Böotier, welche für den alten Bund wären, möchten sich waffnen und ihnen anschließen. Auf diese Weise hofften sie die Stadt leicht zu sich herüberziehen zu können.

Als die Platäer gewahr wurden, daß die Thebaner ein­ gedrungen waren und ihre Stadt so im Handumdrehen erobert hatten, wurden sie bange, und weil sie die Zahl der Eingedrun­ genen im Dunkeln nicht deutlich erkennen konnten und für weit größer hielten, als sie wirklich war, verstanden sie sich zu einem Vergleich, gingen auf ihre Vorschläge ein und hielten sich ruhig, zumal man bis dahin noch keinem was zuleide getan hatte. Inzwischen überzeugten sie sich jedoch, daß die Thebaner gar nicht so zahlreich waren und durch einen entschlossenen Angriff anscheinend leicht überwältigt werden könnten; denn die große Mehrzahl der Platäer war keineswegs gemeint, sich von den Athenern zu trennen. Sie beschlossen also, sie an­ zugreifen, rotteten sich zusammen, indem sie, um auf der Straße nicht gesehen zu werden, die Wände zwischen den Häusern durchbrachen, verrammelten die Straßen durch ausgespannte Frachtwagen und trafen auch sonst alle ihnen in dem Augen­ blick zweckmäßig erscheinenden Maßregeln. Als alles so weit vorbereitet war, nahmen sie die Nacht oder doch die Dämmerung noch wahr, um aus den Häusern über sie herzufallen, denn bei Hellem Tage wären die Thebaner mutiger und nicht weiter im Nachteil gewesen, während sie so in banger Nacht bei ihrer Ortskenntnis den Fremden gegenüber im Vorteil waren. Auch kam es sogleich zum Angriff und damit zum Hand­ gemenge.

Als die Thebaner sahen, daß sie überlistet waren, schlossen sie sich eng zusammen, um den Feinden nach allen Seiten die Spitze bieten zu können, schlugen auch zwei- oder dreimal einen Angriff ab. Da jedoch die Platäer von neuem ungestüm auf sie eindrangen und auch Frauen und Sklaven mit wildem .Geschrei ihnen Steine und Dachziegel von den Häusern auf die Köpfe warfen, dazu noch in der Nacht viel Regen gefallen war, kriegten sie es mit der Angst, ergriffen die Flucht und zerstreuten sich in der Stadt. Und da die meisten hier nicht [*]( I )

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Bescheid wußten und in Kot und Dunkelheit - denn es war Neumond - den rechten Weg nicht finden und ihren Ver­ folgern, denen jedes Gäßchen bekannt war, nicht entrinnen konnten, so kamen die meisten um. Auch das Tor, durch das sie eingedrungen, das einzige, welches offen war, verschloß ein Platäer, indem er den Schaft seines Spießes anstatt des Pflockes durch den Querbalken stieß, so daß man auch da nicht mehr hinaus konnte. Da man sie in der Stadt überall verfolgte, stiegen einige auf die Stadtmauer und ließen sich nach außen hinabfallen, kamen dabei aber meist ums Leben. Einige ge­ langten durch ein unbewachtes Tor, dessen Querbalken sie mit einem Beil, das ihnen eine Frau gegeben, zerschlagen hatten, unbemerkt ins Freie, allerdings nicht viele, da es bald bemerkt wurde. Auch wurde manchem, der sich in der Stadt verlaufen hatte, der Garaus gemacht. Der größte Haufe aber, der noch einigermaßen zusammenhielt, geriet in ein geräumiges Haus an der Stadtmauer, dessen Torweg zufällig offen stand, in der Meinung, es sei das Stadttor und habe auf der anderen Seite einen Ausgang ins Freie. Als die Platäer sahen, daß sie sich hier gefangen hatten, waren sie unschlüssig, ob sie das Haus anstecken und alle bei lebendigem Leibe dann verbrennen oder was sie sonst mit ihnen anfangen sollten. Schließlich kam es zu einem Abkommen, wonach sie und alle noch am Leben befindlichen, in der Stadt umherirrenden Thebaner die Waffen streckten und sich den Platäern auf Gnade und Un­ gnade ergaben. So endete der Überfall von Platäa.

Als die anderen Thebaner, welche für den Fall, daß den Eindringlingen was in die Quere käme, schon in der Nacht mit ihrer Hauptmacht zur Stelle sein sollten, unterwegs die Nachricht erhielten, wie die Sache abgelaufen, beschleunigten sie ihren Marsch. Platää ist von Theben siebzig Stadien ent­ fernt, und da es über Nacht stark geregnet hatte, kamen sie nur langsam vorwärts. Der Asopos war hoch angeshcwollen. und schwer zu überschreiten. Und da sie im Regen marschieren mußten und beim Übergange über den Fluß viel Zeit verloren hatten, kamen sie zu spät, so daß ihre Landsleute entweder

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schon tot oder gefangen waren. Als sie das erfuhren, suchten sie die außerhalb der Stadt befindlichen Platäer einzufangen; denn da der Überfall so urplötzlich mitten im Frieden erfolgt war, waren noch Leute und Gerätschaften draußen auf dem Lande. Die eingefangenen Platäer aber sollten ihnen als Geiseln dienen für ihre noch am Leben befindlichen gefangenen Landsleute. Während sie sich die Sache noch überlegten, schickten die Platäer, die etwas der Art vermuteten und für ihre Leute draußen fürchteten, aus der Stadt einen Herold an sie ab und ließen ihnen sagen, es sei schon schweres Un­ recht gegen sie gewesen, mitten im Frieden einen solchen Ge­ waltstreich gegen ihre Stadt zu führen, und man solle sie jetzt draußen im Frieden lassen. Wo nicht, so würden auch sie die Gefangenen töten, denen sie bisher das Leben gelassen und die sie ihnen herausgeben würden, wenn sie ihr Gebiet räumten. So wenigstens sagen die Thebaner und versichern sogar, die Platäer hätten sich eidlich dazu verpflichtet. Die Platäer aber stellen in Abrede, die sofortige Herausgabe der Gefangenen versprochen zu haben, behaupten vielmehr, sie hätten sich dazu nur bereit erklärt, falls es auf Grund weiterer Verhandlungen zu einem Vergleich kommen würde, eidlich aber hätten sie sich überhaupt zu nichts verpflichtet. Die Thebaner räumten denn auch ihr Gebiet, ohne dort weiter Schaden zu tun. Die Pla­ täer aber brachten alles, was draußen war, schnell in die Stadt und töteten dann die Gefangenen auf der Stelle. Im ganzen waren es hundertundachtzig, unter ihnen auch Eurymachos, mit dem die Verräter die Sache eingefädelt hatten.

Hierauf sandten sie einen Boten nach Athen, gaben den Thebanern ihre Toten unter freiem Geleit heraus und richteten sich in der Stadt einstweilen auf eigene Hand ein. Die Athener aber, welche von den Ereignissen in Platää gleich Nachricht erhalten hatten, ließen sofort alle Böotier in Attika festnehmen und schickten einen Herold nach Platää mit der Weisung, den gefangenen Thebanern nichts weiter zuleide zu tun, bis man sich auch in Athen ihretwegen schlüssig gemacht hätte; denn davon, daß sie bereits getötet waren, hatten sie noch keine

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Nachricht. Ein erster Bote war nämlich gleich nach dem Ein­ bruch der Thebaner an sie abgegangen, der zweite unmittelbar nachdem sie überwältigt und in Gefangenschaft geraten waren. Seitdem hatten sie nichts weiter gehört. So sandten sie denn auch jetzt ihren Herold ab, ohne zu wissen, wie die Dinge in Platää tsanden, und als dieser dort ankam, fand er die Ge­ fangenen schon nicht mehr am Leben. Darauf schickten die Athener Truppen nach Platää, versahen die Stadt mit Lebens­ mitteln und ließen eine Besatzung darin zurück, nachdem sie die nicht wehrfähigen Männer sowie die Weiber und Kinder hinausgeschafft hatten.